Hans (Erhardt Hans) Kanter
Vita
(GA) Hans Kanter 04.12.1874
Eltern wh. Berlin, Potsdamerstr. 1
(LEA) Kanter Dr., Erhard Hans 04.12.1874 Berlin
Brauereidirektor (Walsheim Brauerei)
in dern Jahren 34/35 öffentlich und in der Presse angegriffen
05.01.1935 - 16.02.1936 Gef. Saarbrücken Untersuchungshaft
in 1. Instanz zu 3 (andernorts 8) Jahren Zuchthaus verurteilt, in 2. Instanz zu Dauer der U-Haft, wg. aktienrechtlicher Untreue
angeblich den Wert übersteigende Hypotheken aufgenommen auf seine Immobilien, um seinen Besitz zu retten; Prozess auf Betreiben zweier Besitzer der Brauerei Becker mit NS-Beziehungen
28.02.1936 Emigration unter tlw. Mitnahme der Möbel Alleestr. 6; weiteres Mobiliar Birkenstr. 5-7 verkauft von einer Frau [Else] von Hagen, angebl. unehel. Kind mit Dr. Kanter; angeblich schon lange vor 1933 mit 12 Mio. Frs. verschuldet
ab 01.03.1936 zunächst in Zürich, später in Küsnacht/Schweiz
(PM) Chemiker, Brauereidirektor und Eigentümer der Walsheim-Brauerei; Auf- und Ausbau der Brauerei zur größten im Saarland während der 1920er Jahre, großer Neubau Ende des Jahrzehnts
in 1. Instanz am unter bekanntem Nazi-Richter zu mehrjähriger Freiheitsstrafe verurteilt (11.10.1935 Landgericht Saarbrücken)
in 2. Instanz in fast allen Anklagepunkten freigesprochen, Haftstrafe auf die Dauer der Untersuchungshaft reduziert (15.02.1936 OLG Köln Zweigstelle Saarlautern); während dieser Zeit de facto Enteignung des Unternehmens und des privaten Vermögens
nach Entlassung Flucht
28.02.1936 Emigration der Familie
Q: Enkelin Claudia Schoch Zeller, 06.02.2024
s.a. detailliert (CSZ1) und (CSZ2)
(Mk) Dr. Kanter, Erhardt Hans 04.12.1874 Berlin
k., ledig > verh, Generaldirektor
StA: Preußen
von Halbe (Teltow)
08.06.1914 Wiesenstr. 1a
05.02.1922 Alleestr. 6 jetzt Hindenburgstr. 6
21.02.1936 auf Reisen
27.02.1936 auf Reisen Mann & Frau
ganze Familie ins Ausland
RV: Marguerite geb. Adenauer sowie Tochter [unleserlich durch Beschädigung] Marion Reichsangehörigkeit durch Abstammung 22.08.1939 Abtl. II 50 30 /i 6/7/8/39 [tlw. übereinstimmend mit Mk Tochter Ursula]
Lt. Schr. vom 23.08.1957 in Küsnacht/Kt. Zürich/ Schweiz wohnhaft.
Lt. Fest[stellung] d. Geh. Staatspolz. vom 25. Septbr. 40 IIF40 ist die Mutter des Eduard Kanter (4.12.74) Jüdin. Die Kinder sind also Mischlinge 2. Grades.
Die Witwe nebst zweier Töchter Heimatschein zum 7.12.40 auf 1 Jahr von Abt. II [?] 1,2,3/40 erhalten.
(PM) Laut Geburtsurkunde und Todesschein des Vaters war auch dieser Jude.
Q: Enkelin Claudia Schoch Zeller, 06.02.2024
Notes
(LEA) Sachverständige sind sogar der Auffassung, dass der frühe Tod auf die Erregung aus der damaligen Zeit zurückzuführen ist.
(Mk) Ehefrau Kanter Margarethe Alice geb. Adeneuer 03.09.1890 Köln, ev.
Tochter Kanter Ursula Dr. 15.01.1917 Saarbrücken
Tochter Schoch Marion geb. Kanter 16.05.1919 Saarbrücken, ev.
Vater Kanter Eugen
Mutter Kanter Rosa geb. Salomons
[In Sachen Kanter und speziell Immobilienbesitz Emailwechsel mit Thomas Lauff
GA Berlin 261/1874
Biography
Dr. Hans Kanter, 1874-1937
Ein Berliner Chemiker kommt ins Saarland
Der Chemiker Dr. Hans Kanter kam 1915 als Zementfachmann nach Saarbrücken, um das Zementwerk seiner späteren Schwiegerfamilie (Cementwerk Böcking in Malstatt) zu leiten. Hier lernte er seine Frau Marguerite Adeneuer kennen. Die beiden heirateten 1916. Bald kamen die Töchter Ursula (1917) und Marion (1919) zur Welt. Das Stadthaus der Familie stand an der Alleestraße neben dem Casino, auf dem Gelände des heutigen Landtagsgartens; im Frühling zog man jeweils ins Sommerhaus an der Birkenstraße auf dem Petersberg. Hans Kanter stammte aus einer jüdischen Familie, die väterlicherseits seit ca.1820 in Berlin ansässig war. Seine Eltern waren Mitglied der jüdischen Reformgemeinde. Hans Kanter war in Berlin aufgewachsen. Im Jahrbuch seines Gymnasiums wird er als Abiturient jüdischen Glaubens aufgeführt, in seiner Dissertation bezeichnete er sich als katholisch.
Zu Beginn der 1920er Jahre verließ Hans Kanter das Zementunternehmen seiner Schwiegereltern, stieg bei der Brauerei in Walsheim ein und hielt schließlich 90 % ihres Aktienkapitals. Die restlichen 10 % gehörten einem Bruder und einem Freund, der in Paris lebte. Kanter benannte die Brauerei um in Walsheim-Brauerei AG, verwies aber mit dem Zusatz «vorm. Schmidt & Guttenberger» weiter auf ihre Gründer.
Ein großes Bier vor der Machtergreifung der Nazis
Zwischen 1922 und 1929 baute Hans Kanter die Brauerei aus. Er machte sie bis zum Ende der 1920er Jahre zur größten im Saargebiet. Der Neubau von 1929 und insbesondere die neuen Produktionsanlagen zählten damals zu den modernsten Deutschlands. Die Walsheim-Brauerei wies schließlich einen Bierausstoß von rund 240'000 Hektolitern pro Jahr aus. Zusammen mit seiner Frau war Hans Kanter außerdem zu 70 Prozent an der Hofbräuhaus Bierzentrale in Saarbrücken und zu 80 Prozent an den Brasseries Union Messine in Metz beteiligt.
Das Bier aus Walsheim exportierte man nach Frankreich – etwa an die Côte d’Azur oder nach Biarritz – und in die französischen Kolonien sowie nach Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Italien, in kleinen Mengen auch in die Schweiz. Man trank das Walsheim Bier in weiten Teilen Westeuropas, aber auch in Marokko, etwa in Casablanca, oder in Algerien, in Tunis und in Kairo sowie in Beirut. Es wurde selbst nach Indochina und Südafrika und in geringen Mengen gar bis nach Amerika und Südamerika geliefert. Man braute bereits alkoholfreies Bier.
Der innovative Unternehmer Kanter war ein weitgereister Mann, er sprach vier Sprachen fließend und war ein Kunstliebhaber und -sammler. Er war überdies ein politisch denkender Mensch. Im Vorfeld der Abstimmung vom 13. Januar 1935 unterstützte er die Status-Quo-Bewegung aktiv und stand mit Gegnern der Rückgliederung des Saargebiets an Nazi-Deutschland in Kontakt.
Der Brauerei-Neubau von 1929 (Architekt Otto Zollinger, Zürich) war geprägt vom Architekturstil des Neuen Bauens, des Bauhauses. Modernes Design kennzeichnete die Ausstattung der belieferten Restaurants (gestaltet von Zollinger und seiner Frau Freda). Manche Restaurants waren bereits als Schnell-Imbissstätten konzipiert. Die gemeinsame Konzeptidee von Hans Kanter und seinem Architekten überlieferte Letzterer: In Schnellimbissstätten sollte sich jedermann – ob Werks- oder Bankdirektor und ebenso ob Arbeiter oder Bergmann – in moderner, froher und origineller Atmosphäre rasch, gut und preiswert verköstigen.
Die Namen dieser Imbissstätten standen für das Programm: in Saarbrücken «EinsZweiDrei» oder «Quick», in Metz «Sur le Pouce» (auf die Schnelle). Zollinger nahm die von Kanter und ihm konzipierten Ideen nach dem Krieg bei der Errichtung der ersten Mövenpick-Restaurants in Zürich, Luzern und Bern wieder auf. Die Gestaltung der Plakate hatte Hans Kanter beim Schweizer Grafiker und Plakatkünstler Otto Baumberger in Auftrag gegeben.
Das Vorgehen zur «Arisierung» des Unternehmens
Die Machtergreifung der Nazis in Berlin Ende Januar 1933 war für Hans Kanter verhängnisvoll und verheerend. Im Saarland setzte, wie die Historiker Dieter Muskalla und Klaus-Michael Mallmann sowie Gerhard Paul später beschrieben, schon 1933 eine gezielte Unterwanderung durch Spitzel und Agenten der Nazis ein. Es wurden Leute in Verbände, Parteien, Unternehmungen und sonstige Institutionen eingeschleust. In der Hausbank von Hans Kanter, die sich bereits in Liquidation befand, saßen den Nazis und insbesondere dem ersten Gestapochef des Saarlandes, Anton Dunkern, nahestehende Leute als Liquidatoren am Ruder (gemäß Recherche im Landesarchiv des Saarlandes).
Hans Kanter hatte für seinen 1929 fertiggestellten großen Neubau samt modernsten Produktionsanlagen erhebliche Kredite aufgenommen. Die Weltwirtschaftskrise erreichte nach dem Börsenkrach vom 25. Oktober 1929 und der anschließenden Bankenkrise ihren Höhepunkt im Saargebiet in den Jahren 1931 und 1932. Damals richteten die Kanters täglich zwölf Kindern ein Mittagessen aus.
Die Liquidatoren der Bank und ihre Anwälte - NS-Sympathisanten und später NSDAP-Mitglieder – die nun die Anweisungen gaben, kündigten Mitte 1933 Hans Kanter sämtliche laufenden Kreditverträge, um ihm neue Verträge abzuringen. Dabei machten sie zur Bedingung, dass Hans Kanter als Vorstand zurücktritt und sie die Berechtigung erhalten, alle Führungspositionen zu besetzen – dies war ein gängiges Vorgehen zur sogenannten Arisierung von Unternehmen, wie man heute weiß. Diese Aktion war begleitet von Hetzkampagnen gegen Kanter als Juden. Mit den aufgezwungenen neuen Regelungen wurde Hans Kanter in der eigenen Brauerei faktisch ausgeschaltet.
Die Bank ernannte denn auch als Erstes einen Nationalsozialisten aus Berlin, Hans Sautner, zum einzigen Vorstand, ausgestattet mit allen Kompetenzen. Dieser ging zusammen mit den Nazi-Liquidatoren der Bank umgehend daran, die formelle Übernahme der Brauerei folgen zu lassen. Dazu änderten sie die neuen Verträge umgehend wieder ab und vereinbarten Anfang 1934 ein erstaunliches Konstrukt mit neuen Zahlungsbedingungen, wonach sämtliche Kredite sofort fällig werden sollten, falls die Brauerei Ende 1934 auch nur einer Zahlungspflicht nicht vollumfänglich nachkommen würde. Das umfasste auch die Kredite des Bruders von Hans Kanter, der eine Finanzgesellschaft in New York besaß.
Der eingeschleuste Nazi-Vorstand machte sich umgehend ans Werk. Er gab das Geld mit vollen Händen aus, indem er etwa großzügige Darlehen und Vorschüsse etc. an die Kunden der Brauerei gewährte, gleichzeitig drosselte er die Produktion. Der Bierausstoß der Walsheim war auffällig rückläufig, während die anderen Brauereien des Saarlandes nach den Krisenjahren ab 1934 wieder deutlich bessere Ausstoßzahlen erzielten. Die ganzen Machenschaften waren begleitet von Schmährufen wie: «Trinkt kein Juden-Bier.»
Damit erreichte der eingesetzte Nazi, dass die Walsheim Ende 1934 einen kleinen Betrag nicht begleichen konnte. Der Vorstand und die Bank hatten die Brauerei arglistig und gezielt auf die Illiquidität und den Konkurs hingesteuert. Die «Saarbrücker Zeitung» wunderte sich damals darüber, dass der Konkurs bei einer derart kleinen ausstehenden Summe überhaupt angemeldet wurde. Weder Hans Kanter als Hauptaktionär noch der Aufsichtsrat noch der Bruder von Hans Kanter als wichtiger Kreditgeber wurden rechtzeitig über die Konkursanmeldung informiert. Hans Kanter setzte alle Hebel in Gang, um den Konkurs abzuwenden. Doch der Konkursverwalter spielte das Spiel der Bank-Liquidatoren mit.
Kurz vor der Saarabstimmung vom 13. Januar 1935 wurde Hans Kanter unter fadenscheinigen Vorwürfen verhaftet. Damit war er vollends außer Gefecht gesetzt. Man wickelte das Konkursverfahren im Sommer 1935 gegen das Unternehmen und ebenso gegen sein übriges Vermögen weitgehend ab. Es endete damit, dass kein einziger Gläubiger Verluste erlitt.
Auf diesem Weg hatte man sich die Walsheim-Brauerei angeeignet beziehungsweise sich vollends die Herrschaft über sie verschafft. Diese wurde bis Mitte des Zweiten Weltkriegs weitergeführt. Bis sie der Gauleiter nach einem Beschuss letztendlich schließen ließ. Damit konnten verschiedenste Konkurrenten die Kundschaft (Bierausstoßrechte), die Marke, Liegenschaften usw. übernehmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb eine weitgehend ausgehöhlte Gesellschaft noch bis 1973 bestehen.
Gegen Hans Kanter wurde ein Strafverfahren eingeleitet. In erster Instanz wurde er wegen über 20 Straftaten verurteilt. Den vorsitzenden Richter Karl Freudenberger bezeichneten die Historiker Mallman und Paul in ihrem Werk der 1990er Jahre als Nazi-Richter der ersten Stunde. Laut ihm hatte die Justiz die Aufgabe, «Staatsfeinde kaltzustellen», oder gar zu vernichten und mitzuhelfen, die «deutsche Rasse zu schützen».
Eingeständnis des Unrechts durch den zweitinstanzlichen Richter
Das Gericht der zweiten Instanz ließ bis auf zwei Nebenpunkte, in denen noch eine Verurteilung wegen Aktienuntreue erging, alle Vorwürfe fallen. Die Aussagen der Sachverständigen vor erster Instanz beurteilte es als klar falsch. Das Strafmaß entsprach noch exakt der erlittenen Untersuchungshaft von 13 Monaten. Ein Freispruch war 1936 für einen Juden nicht zu erwarten. Dennoch ist aus der Urteilsbegründung die Empörung des Richters über das erstinstanzliche Verfahren zu erkennen.
Der Richter der zweiten Instanz hielt fest, dass Kanter den «Zusammenbruch seines Werkes» und die «Verschleuderung seines Vermögens» erleben musste, obwohl nach den nun gehörten Gutachtern die Annahme nahelag, dass eine unbedingte «Notwendigkeit des Konkurses nicht vorgelegen hatte» und nur das «Eingreifen eines bestimmten Interessekreises» die beschleunigte Auflösung und Verwertung des Unternehmens erzwungen hatte. Diese Aussage ist erstaunlich und war mutig. Ein größeres Eingeständnis des Unrechts hätte 1936 beziehungsweise 1937 - dem Jahr der Ausfertigung des Urteils – ein Richter kaum machen können, ohne fürchten zu müssen, selbst mit Sanktionen belegt zu werden. Nach seinem Urteil wurde der Richter massiv angefeindet (gemäß Recherche im Landesarchiv des Saarlandes).
Nach der Flucht Gründung des französischen Biers «Kanterbräu»
Hans Kanter konnte nach dem Urteil in zweiter Instanz das Gefängnis verlassen und floh unter dramatischen Umständen nach Zürich, wo er gut eineinhalb Jahre später im Herbst 1937 starb. Er war in der Nazi-Haft schwer erkrankt, erholte sich nach seiner Flucht zunächst aber wieder und gründete dank seines beeindruckenden Schaffenswillens, seiner großen Schaffenskraft und seines initiativen Unternehmergeistes noch das französische Bier «Kanterbräu», das bis ca. 2022 in Frankreich weitverbreitet und fast überall erhältlich war.
Das Signet auf den Bierkrügen der Walsheim-Brauerei zeigte in moderner Stilisierung drei Biertrinker. Statt der drei Biertrinker standen im Signet des «Kanterbräu» nun Fäuste, die die Bierkrüge hielten. Dies als Zeichen für den Widerstand gegen die braune Clique.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde behauptet, Hans Kanter hätte Geld dem Unternehmen entzogen, weil er in Nazi-Deutschland für sich keine Zukunft mehr gesehen hätte. Selbst die Nazis hatten ihm so etwas nie vorgeworfen. Faktisch war dies auch kaum möglich. Wurde Hans Kanter doch schon ab Mitte des Jahres 1933 in seinem eigenen Unternehmen ausgeschaltet. Wie hätte er da Geld aus der Firma abziehen können?
Im historischen Museum von Saarbrücken kann man das gestalterische Erbe von Hans Kanter, das, was von seinem Lebenswerk übrigblieb, betrachten. In Walsheim haben Bürgermeister Michael Clivot und die Ortsvorsteherschaft im Mai 2024 mit der Benennung des Platzes vor dem alten Brauereikeller nach Hans Kanter und der Enthüllung einer Büste ihre Wertschätzung für sein Schaffen posthum zum Ausdruck gebracht.
Dr. iur. Dr. h.c. Claudia Schoch Zeller (Enkelin, im November 2024)
Claudia Schoch Zeller: Aufschwung und Niedergang der Walsheim-Brauerei, in Jahrbuch der Gesellschaft für Geschichte des Brauwesens, Berlin 2010, S. 124 ff.
Claudia Schoch Zeller: Zerstörung eines Lebenswerks, Das Schicksal der Walsheim-Brauerei von Hans Kanter in den dreißiger Jahren, in Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend, 52. Jahrgang 2004, Saarbrücken 2005, S. 125 ff.