Jüdisches Leben im Saargebiet vom 19. Jahrhundert bis 1935

Gesellschaftlicher Aufstieg über die Bildung

Autor: Hans-Christian Herrmann

Vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Saarabstimmung 1935 war an der Saar eine sehr vielfältige und auf den ersten Blick auch gesellschaftlich integrierte jüdische Gemeinde gewachsen. Juden waren anerkannte Geschäftsleute und einige standen lokalen Handels- und Gewerbevereinen vor. Einige waren kommunalpolitisch aktiv und in Vereinen engagiert.

Ein Schaufenster jüdischen Lebens – die Saarbrücker Bahnhofstraße. Das Foto ist auf Weihnachten 1934 zu datieren, erstmals gab es eine Weihnachtsbeleuchtung in der Bahnhofstraße. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Fritz Mittelstaedt.

Ein Schaufenster jüdischen Lebens – die Saarbrücker Bahnhofstraße. Das Foto ist auf Weihnachten 1934 zu datieren, erstmals gab es eine Weihnachtsbeleuchtung in der Bahnhofstraße. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Fritz Mittelstaedt.

Ein Schaufenster jüdischen Lebens – die Saarbrücker Bahnhofstraße. Das Foto ist auf Weihnachten 1934 zu datieren, erstmals gab es eine Weihnachtsbeleuchtung in der Bahnhofstraße. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Fritz Mittelstaedt.

Die jüdische Gemeinde zeigte sich sehr vielfältig.  Einerseits gab es eine Mehrheit stark angepasster Juden, deren jüdische Identität eigentlich nur an typisch jüdischen Namen wie Hanau, Levy oder Weil erkennbar war. Sie fühlten sich als Deutsche. Die Männer hatten im Ersten Weltkrieg dem Deutschen Kaiserreich gedient oder waren gefallen. Die jüdische Bevölkerung lehnte wie die überwältigende Mehrheit der Menschen an der Saar die Abtrennung der Saar von Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ab. Daneben gab es auch osteuropäische Juden, die etwa aus Polen und Galizien ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert  ins  Saargebiet gekommen waren, um den Pogromen in ihrer Heimat nicht zum Opfer zu fallen. Sie waren religiöser und mehrheitlich nicht assimiliert. Gleichwohl gab es eine überschaubare Gruppe von Juden, die die Idee eines eigenen Staates und ein offenes Bekenntnis zu ihrer jüdischen Identität favorisierten. So gab es in Saarbrücken auch eine zionistische Ortsgruppe.

Mitten im Leben – gesellschaftlicher Aufstieg im Zeichen der Emanzipation

Blick auf das Passage-Kaufhaus in Saarbrücken. Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Karl August Schleiden. - Stadtarchiv Saarbrücken

Blick auf das Passage-Kaufhaus in Saarbrücken. Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Karl August Schleiden. - Stadtarchiv Saarbrücken

Blick auf das Passage-Kaufhaus in Saarbrücken. Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Karl August Schleiden. - Stadtarchiv Saarbrücken

Spätestens im ausgehenden 19. Jahrhundert spielten Juden eine herausragende Rolle in Handel und Gewerbe im Saargebiet. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg stieg auch die Anzahl jüdischer Ärzte, Ärztinnen und Rechtsanwälte.

In Saarbrücken trugen Jüdinnen und Juden in Orchestern, im Theater und als Kinobesitzer zum kulturellen Leben bei. So gab es im Jahr 1931 fast 140 jüdische Firmen an der Saar, die 7.000 Menschen Arbeit boten. In Saarlouis beispielsweise bestand eine Tabakfabrik in jüdischem Besitz, insgesamt gab es in Saarlouis jüdische Firmen, die 750 Menschen in Lohn und Brot brachten.

Im Deutschen Reich arbeiteten 1907 fast 63 Prozent der berufstätigen Juden in den Bereichen Handel und Verkehr, aber nur 13 Prozent der Gesamtbevölkerung. 1933 sahen die Größenverhältnisse ähnlich aus, dagegen arbeiteten nur 23 Prozent der Juden in Industrie und Handwerk, jedoch über 40 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Verhältnisse im Saargebiet entsprachen diesem Bild.

Sichtbare jüdische Präsenz in Handel und Gewerbe

Werbung des Merziger Warenhauses Kahn. - Merziger Volkszeitung, 5.3.1935

Werbung des Merziger Warenhauses Kahn. - Merziger Volkszeitung, 5.3.1935

Werbung des Merziger Warenhauses Kahn. - Merziger Volkszeitung, 5.3.1935

Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung der Saarregion erlebten Handel und Gewerbe ab den 1850er Jahren ein starkes Wachstum. Jüdische Menschen wanderten in die Saarregion ein oder zogen aus kleineren Orten wie etwa Sötern oder Losheim in größere Orte und Städte. Schon vor der Jahrhundertwende bestanden jüdische Geschäfte in fast allen Gemeinden und Städten an der Saar: In Illingen etwa Moritz Lazar, in Homburg das Kaufhaus Salman, das Kaufhaus Kahn in Merzig, wohl seit den 1880er Jahren in der Stadt, das Textilhaus Simon und in Saarlouis die Geschäfte Wollheim, Eugen Stern und Marx. Für Völklingen ist beispielsweise das 1902 gegründete Kaufhaus L. Wollheim zu nennen. Bekannt waren ebenso das „Welthaus“ in Dillingen, ein Schuhspezialgeschäft, sowie die von Emma Stern in Lebach geführte Textilhandlung.

Auch in St. Wendel prägten jüdische Geschäftsleute Handel und Gewerbe. Zu nennen sind hier die Kaufhäuser Eugen Berl, Daniel und Alphons Wolff & Sohn, die Drogerie Eppstein, Manufakturwaren Reinheimer & Mendel oder die 1891 gegründete Lebensmittel- und Futterhandlung von Hermann Wildmann. Am Hüttenstandort Neunkirchen existierten ebenfalls zahlreiche jüdische Geschäfte (z. B. Kaufhaus Witwe Joseph Levy). Vor allem in St. Johann, ab 1909 Teil der Großstadt Saarbrücken, entstanden zahlreiche jüdische Geschäfte in den Branchen Textil, Lederwaren und Schuhe sowie Spielzeug und Eisenwarenhandel.

Werbung Louis Levy, Saarlouis, 1906. - Stadtarchiv Saarbrücken, Adressbuch der Kreise Saarbrücken, Saarlouis und Forbach 1906.

Werbung Louis Levy, Saarlouis, 1906. - Stadtarchiv Saarbrücken, Adressbuch der Kreise Saarbrücken, Saarlouis und Forbach 1906.

Werbung Louis Levy, Saarlouis, 1906. - Stadtarchiv Saarbrücken, Adressbuch der Kreise Saarbrücken, Saarlouis und Forbach 1906.

Das Aufblühen von Handel und Gewerbe, zu dem jüdische Kaufleute wesentlich beitrugen, prägte mit der Kaufhausarchitektur die jeweiligen Ortsbilder: „600 Jahre St. Wendel – 72 Jahre Daniel. Das Haus Daniel ist aus dem Stadtbilde St. Wendels nicht mehr weg zu denken“ - so lautete eine Anzeige in einer St. Wendeler Zeitung im Jahr 1932. Noch mehr galt dies für Saarbrücken mit seiner Bahnhofstraße. Gut ein Drittel der dort ansässigen Geschäfte wurde von jüdischen Persönlichkeiten geführt.

In Homburg und St. Ingbert waren die dortigen Kaiserstraßen sozusagen die Schaufenster jüdischen Lebens. Dazu ein Blick in die St. Ingberter Kaiserstraße, hier gab es Ende der 1920er Jahre über 15 jüdische Geschäfte, unter anderem:  Nr. 18 Bazar  und Althandel Fiszel Gutmann, Nr. 37 Jakob Stern (Herren- und Damenkonfektion), Nr. 43 Moritz Schmidt (Porzellan, Küchengeräte und Spielwaren), Nr. 75 Max Goldberg (Kurz-, Weiß- und Wollwaren) und  Nr. 104 Textilkaufhaus Eugen Lyon. Juden waren aber nicht nur im Groß- und Einzelhandel als  Eigentümer von Kaufhäusern und Geschäften aktiv, viele von ihnen arbeiteten als Angestellte etwa als Buchhalter, Verkäuferin oder Dekorateur. Andere waren als Handelsvertreter  oder Handlungsreisende  tätig und verkauften auch an der Haustür. Diese Gruppe lebte eher unter schwierigen Verhältnissen, war vielfach arm und sozial nicht abgesichert.          

Einige jüdische Unternehmer

Werbefahrzeug der Brauerei Walsheim. - Stadtarchiv Saarbrücken. Sammlung Güth und Sammlung Kirsch.

Werbefahrzeug der Brauerei Walsheim. - Stadtarchiv Saarbrücken. Sammlung Güth und Sammlung Kirsch.

Werbefahrzeug der Brauerei Walsheim. - Stadtarchiv Saarbrücken. Sammlung Güth und Sammlung Kirsch.

In einigen Bereichen engagierten sich Juden als Industrielle. In Saarbrücken gab es zahlreiche von Juden geführte Kleiderfabriken. Zu nennen ist auch die äußerst innovative und erfolgreiche Brauerei Walsheim oder die 1905 errichtete Hansena-Brauerei in Geislautern. Maßgeblich beteiligt an der Entwicklung von Hansena war der Jude Leopold Nathan als Erfinder eines Gärungsschnellverfahrens. 1922 hatte der aus Berlin kommende jüdische Chemiker Dr. Kanter die Walsheim-Brauerei erworben und 1930 zur größten Brauerei des Saargebietes aufgebaut. Dieses Bier wurde in großen Mengen auch exportiert, etwa nach Belgien, Luxemburg, Frankreich und Italien. Walsheim-Bier wurde sogar nach Algier, Beirut, Madagaskar und in einigen südamerikanischen Großstädten verkauft.

Werbefahrzeug der Brauerei Walsheim. - Stadtarchiv Saarbrücken. Sammlung Güth und Sammlung Kirsch.

Werbefahrzeug der Brauerei Walsheim. - Stadtarchiv Saarbrücken. Sammlung Güth und Sammlung Kirsch.

Werbefahrzeug der Brauerei Walsheim. - Stadtarchiv Saarbrücken. Sammlung Güth und Sammlung Kirsch.

Ferner bestand in Neunkirchen die Firma MENESA (Metallindustrie Neunkirchen), seinerzeit der zweitgrößte Arbeitgeber der Stadt, ansässig in der Wellesweilerstraße. Das Unternehmen gehörte der Familie Lachmann. Kaufmännischer Direktor war seit 1929 Kurt Lachmann (1906-1987), der nach dem Krieg von 1948 bis 1955 das Amt des Polizeipräsidenten des autonomen Saarlandes bekleiden sollte. MENESA produzierte insbesondere Haus- und Küchengeräte und Kochgeschirre aus Aluminium. Unter dem Namen Palotto produzierten im Meerwiesertalweg Peter und Johann Barth sowie Hans und Paul Feibelmann Schuhwichse und Bohnerwachs. Sally und Robertine Kirchheimer betrieben in der Triererstraße 11 eine Papierwarenfabrik.  

Werbung Partiewarenhaus Lewy, Saarlouis, Großer Markt 33. - Dillinger Tageblatt, 12.1.1929.

Werbung Partiewarenhaus Lewy, Saarlouis, Großer Markt 33. - Dillinger Tageblatt, 12.1.1929.

Werbung Partiewarenhaus Lewy, Saarlouis, Großer Markt 33. - Dillinger Tageblatt, 12.1.1929.

In St. Ingbert gab es die Seifenfabrik Paul Kahn. 1843 hatte der jüdische Kaufmann Wolfgang Kahn eine Seifensiederei erworben. Sein Sohn Paul verfeinerte die hergestellte Seife durch die Beifügung einer Mischung von Palmkern-Öl. Sein Verfahren ließ er sich schützen, die St. Ingberter Seife war wegen ihres angenehmen Duftes sehr beliebt.

Die Bedeutung von Maschinen für Metzgereien und den Fleischhandel erkannte der aus Merzig stammende Lazar Kahn und gründete dort 1897 eine Firma, die sich dem Verkauf von Fleischmaschinen widmete, 1912 siedelte sie nach Saarbrücken um und wurde von seinem Sohn Gabriel Kahn weitergeführt.      

Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Juden noch im Viehhandel aktiv. In Saarlouis existierten vier jüdische Viehhandlungen, in St. Wendel drei und in Homburg sogar sechs.  Als Zentrum des jüdischen Viehhandels galten ursprünglich Sötern und Bosen, die damals jedoch nicht Teil des Saargebietes waren, aber hier und im Trierer Raum ihre Kundschaft pflegten.

Werbung von Louis Levy, Saarlouis. - Dillinger Tageblatt, 10.1.1929.

Werbung von Louis Levy, Saarlouis. - Dillinger Tageblatt, 10.1.1929.

Werbung von Louis Levy, Saarlouis. - Dillinger Tageblatt, 10.1.1929.

Werbung Textilgeschäft J. Lyon in Völklingen. - Stadtarchiv Saarbrücken, Adressbuch des Ortes Völklingen 1906.

Werbung Textilgeschäft J. Lyon in Völklingen. - Stadtarchiv Saarbrücken, Adressbuch des Ortes Völklingen 1906.

Werbung Textilgeschäft J. Lyon in Völklingen. - Stadtarchiv Saarbrücken, Adressbuch des Ortes Völklingen 1906.

Ihrer Zeit voraus – Innovationen erkennen und unternehmerisch umsetzen

Anzeige der Fahrrad- und Maschinen-Industrie AG von Felix Hanau - Saarbrücker Zeitung 12.8.1928.

Anzeige der Fahrrad- und Maschinen-Industrie AG von Felix Hanau - Saarbrücker Zeitung 12.8.1928.

Anzeige der Fahrrad- und Maschinen-Industrie AG von Felix Hanau - Saarbrücker Zeitung 12.8.1928.

Noch manchem Saarländer in Erinnerung ist die 1919 gegründete Tabakfabrik Jyldis in Saarlouis, die der Familie Sternheimer gehörte und die zunächst in Saarbrücken angesiedelt war. Zigaretten wurden in Schachteln verkauft. Um auch auf diesem Gebiet unabhängig agieren zu können, gründeten Hugo und John Sternheimer in Saarlouis  die graphische Kunstanstalt und Kartonagenfabrik Astra-Werke. Innovativ war nun, die Zigaretten nicht in Schachteln aus Blech zu verpacken, sondern Papier/Karton dafür zu verwenden. Die Zigarettenproduktion wurde dann ebenfalls nach Saarlouis verlegt. Die Astra-Werke zeigen exemplarisch die Stärke vieler jüdischer Kaufleute, Innovationen zu erkennen und sie unternehmerisch umzusetzen. Die industrielle Produktion erzeugte einen Bedarf an Kartonagen und ihre Produkte mussten beworben werden. Es entstand ein Bedarf an schön aussehenden und zugleich robusten Verpackungen, die mit Firmennamen und Logo sowie einem Werbespruch und Produktinformation bedruckt waren. Genau diesen Bedarf deckten die Astra-Werke und sie waren der führende Betrieb dieser Art im Saargebiet. Ferner gab es die Lyra-AG in der Hohenzollernstraße in Saarbrücken, diese Zigarettenfabrik war von Max Wagowski gegründet worden, einem polnischen Juden. Sein Gespür für Innovationen zeigte sich in seinem Interesse am neuen Medium Film, so zählte er zu den Mitbegründern der Bavaria Filmstudios 1919 und auch sein Sohn Erich arbeitete in dieser sich neu entwickelnden Branche.    

In den neuen, modernen und aufstrebenden Bereichen waren Juden aktiv, sie erkannten früh deren Innovationspotential, übernahmen Risiko und investierten. Dies gilt für die Gründung der Kaufhäuser ebenso wie für andere Branchen. Der aus Saarlouis stammende Felix Hanau war mit seiner Fahrrad- und Maschinenindustrie AG in Saarbrücken der größte Autohändler des Saargebietes.  Die in den 1920er Jahren boomenden Kinos, in der Sprache der Zeit Lichtspieltheater genannt, waren in Saarbrücken vor allem mit der Familie Davidson verbunden. Auch sie wurde von der Weltwirtschaftskrise 1929/30 hart getroffen, musste Konkurs anmelden und verlor ihr Hab und Gut genauso wie manche nicht-jüdischen Geschäftsleute.

Eine offene Frage – waren die jüdischen Menschen gesellschaftlich integriert?

Im Zuge der rechtlichen Gleichstellung im 19. Jahrhundert waren viele Jüdinnen und Juden den Weg der Anpassung gegangen. Die sogenannte Assimilation war mit der Aufgabe von kulturellen und religiösen Traditionen verbunden. Sie konnte sogar so weit gehen, das Judentum aufzugeben, keiner Konfession anzugehören oder etwa im Falle einer Ehe mit einem christlichen Partner dessen Konfession anzunehmen. Die Assimilation konnte noch weiter gehen, nämlich typisch jüdische Namen aufzugeben. Dazu gehört etwa der aus einer alteingesessenen Rabbinerfamilie aus Rheinhessen stammende Intendant des Saarbrücker Theaters Gerhard Pauly.  Seine Assimilation schützte ihn nicht vor massiven Anfeindungen und Amtsverlust bereits vor 1935.

Schon vor der Machtergreifung im Reich machten jüdische Künstler die Erfahrung, mit jüdischen Namen zu scheitern, mit „unverdächtigen Namen“ aber erfolgreich zu sein – Theodor Tagger ist dafür ein Beispiel, dessen Dramen erst als Ferdinand Bruckner zu Erfolgen wurden. Interessant ist nachzufragen, inwieweit Jüdinnen und Juden vor 1935 benachteiligt wurden. Die Goldschmiedin Alice Bloch, die die neue Saarbrücker Synagoge innen gestaltete und in der Nachkriegszeit als herausragende Künstlerin galt, hatte 1934 ihre Prüfung mit „gut“ abgeschlossen, was aber für sie gleichwohl enttäuschend war. Der verantwortliche Goldschmiedemeister schrieb ihr nach dem Krieg in Respekt ihres Könnens, er hätte auf Anweisung von oben ihr als Jüdin nicht die Note „sehr gut“, die sie verdient hätte, geben dürfen. Zwar nur ein Einzelbeispiel, das aber nachdenklich stimmt.

Waren die Jüdinnen und Juden des Saargebietes gesellschaftlich integriert? Abschließend kann dies rückblickend nicht sicher beantwortet werden, in der Tendenz spricht wenig für eine wirklich nachhaltige Integration und Wertschätzung. Von der Präsenz von Jüdinnen und Juden in Kunst, Kultur und Wirtschaft sowie in den freien Berufen sollte man sich nicht täuschen lassen. Zumindest oberflächlich kann man von einer Integration sprechen. Für eine zuverlässige Antwort wären Untersuchungen zur Präsenz von Jüdinnen und Juden in der reichen saarländischen Vereinslandschaft und den Verbänden nötig, eine ausreichende Überlieferung an entsprechenden Mitgliederlisten fehlt jedoch. Dies gilt beispielsweise für die traditionsreiche 1796 gegründete Saarbrücker Casinogesellschaft. Sie zählte 1922 neben den 126 ständigen Mitgliedern weitere 343. Mitglied waren der jüdische Rechtsanwalt Paul Cohnen sowie der Saarbrücker (St. Johann) Bankier Myrtil Lazard (1841-1898). Leider pflegt die Casinogesellschaft ihre Geschichte nicht. Es gibt keine Mitgliederlisten, die eine genaue Überprüfung ermöglichen. Für den deutlich kleineren Saarbrücker Rotary-Club ist von zwei Mitgliedern auszugehen, darunter der Chef des Saarbrücker Passage-Kaufhauses. Zahlreicher sollen Juden generell in Freimaurer-Logen vertreten gewesen sein, von denen es auch eine 1840 gegründete in Saarbrücken gab. Für Saarbrücken bestätigt sich dies aber nicht. Wie in der Casinogesellschaft dominierte hier eher das protestantische Saarbrücker Bürgertum. Die Loge war aber wie die Casinogesellschaft gegenüber Katholiken seit dem 19. Jahrhundert offen. Mitgliederlisten aus dieser Zeit sind nicht öffentlich zugänglich, aber erhalten. Eine von Logenmitglied Wilhelm Best erstellte Publikation lässt vermuten, dass Juden hier keine oder nur eine geringe Rolle spielten. Herausragende Ämter begleiteten sie jedenfalls nicht.

Von dem Bankier Myrtil Lazard wissen wir, dass er Mitglied im Historischen Verein für die Saargegend war und Stadtverordneter in St. Johann sowie Mitglied in der Handelskammer und der Casinogesellschaft. Zumindest er war damit Teil der städtischen Elite.

Einige Juden standen dem örtlichen Gewerbeverein vor wie etwa Emil Robert Levy als Vorsitzender des Schutzvereins für Handel und Gewerbe in Illingen. Dies galt auch für Eugen Berl,  Kaufhausbesitzer aus St. Wendel, der über Jahrzehnte auch an der Spitze eines dortigen Gesangsvereins stand und in St. Wendel ein allseits geschätzter Mann war.

Juden trugen strukturell zur Stärkung und Entwicklung der örtlichen Wirtschaft bei wie etwa St. Ingbert zeigt.  Die schon erwähnte St. Ingberter Eisenwarenhandlung Beer ging auf Mendel Beer zurück, der 1810 nach St. Ingbert gekommen war und bis 1845 dort zwölf Grundstücke erwarb. Sein Sohn Joseph errichtete mit vierzig anderen Bürgern 1867 einen genossenschaftlich organisierten Vorschussverein, aus dem 1906 die Volksbank St. Ingbert entstand. Für die wirtschaftliche Entwicklung St. Ingberts wirkte diese Kreditgenossenschaft  ausgesprochen positiv und half Neugründungen bei der Kapitalbeschaffung. Die nach dem Vorbild von Schulze-Delitzsch organisierte Genossenschaft zählte über 1.650 Mitglieder und war die erste  dieser Art im gesamten Saargebiet. Vorstand war Joseph Beer.

Zu den jüdischen Autohändlern in Saarbrücken zählte auch der Ford-Generalvertreter Peick & Weil - Saarbrücker Zeitung, 6.12.1928.

Zu den jüdischen Autohändlern in Saarbrücken zählte auch der Ford-Generalvertreter Peick & Weil - Saarbrücker Zeitung, 6.12.1928.

Zu den jüdischen Autohändlern in Saarbrücken zählte auch der Ford-Generalvertreter Peick & Weil - Saarbrücker Zeitung, 6.12.1928.

Werbung des Schuh-Hauses Herz, Dillingen - Dillinger Tageblatt, 4.5. 1929.

Werbung des Schuh-Hauses Herz, Dillingen - Dillinger Tageblatt, 4.5. 1929.

Werbung des Schuh-Hauses Herz, Dillingen - Dillinger Tageblatt, 4.5. 1929.

Werbung der Eisenwarenhandlung Lazard aus Saarlouis. - Stadtarchiv Saarbrücken, Landesadressbuch für Industrie, Handel, Handwerk und Gewerbe des Saargebietes 1924-25

Werbung der Eisenwarenhandlung Lazard aus Saarlouis. - Stadtarchiv Saarbrücken, Landesadressbuch für Industrie, Handel, Handwerk und Gewerbe des Saargebietes 1924-25

Werbung der Eisenwarenhandlung Lazard aus Saarlouis. - Stadtarchiv Saarbrücken, Landesadressbuch für Industrie, Handel, Handwerk und Gewerbe des Saargebietes 1924-25

Juden bemühten sich um gesellschaftliche Anerkennung und engagierten sich für das Gemeinwesen wie auch das Beispiel von Alfons Herzberger aus Neunkirchen zeigt. Er führte das Neunkircher Kaufhaus Joseph Levy Witwe AG. Alfons Herzberger, sein Bruder Julius und seine Schwester Elsa waren 1901 von Mainz nach Neunkirchen gezogen. Politisch orientierte sich Alfons im linksbürgerlich-pazifistischen Lager, hatte 1913 ein Kreistagsmandat, war in den frühen 1920er Jahren Stadtratsmitglied und Beigeordneter. Er trug zur Aufwertung von Neunkirchen als Stadt im Jahr 1920 bei. Er stiftete Geld zur Förderung des Kleinwohnungsbaus und war auch Mäzen von Borussia Neunkirchen. 1935 musste er nach Paris emigrieren. Mit dem Überfall Hitlers auf Frankreich verschärfte sich seine Situation, er starb auf der Flucht am 18. Juni 1941 in Bergerac, weil eine erforderliche Operation nicht rechtzeitig durchgeführt werden konnte.

Hoher jüdischer Anteil in freien Berufen wie Ärzte und Rechtsanwälte

Erstmals praktizierte 1867 sowohl in Saarbrücken als auch in Ottweiler ein jüdischer Arzt. In Ottweiler sollte sich Bernhard Levy einen ausgezeichneten Ruf erarbeiten und bis zum Stabs- und Districtarzt avancieren. 1913 waren von 413 Ärzten an der Saar 28 Juden, ihr Anteil wuchs in den folgenden Jahren an. 1934 waren über 18 Prozent aller saarländischen Ärzte israelitischen Glaubens, die meisten hatten ihre Praxis in Saarbrücken.

In Saarbrücken als einziger Großstadt konzentrierten sich die Facharztpraxen, viele wurden von Juden geführt. Auffallend ist dabei eine vergleichsweise hohe Zahl von Fachärztinnen wie etwa Dr. Wally (Rosa) Steinthal, Fachärztin für Frauenleiden und Geburtshilfe, oder die Zahnärztin Dr. Rose Meyer. Jüdische Ärzte waren auch im öffentlichen Gesundheitswesen beschäftigt wie etwa im Bürgerhospital in Saarbrücken.  Auch als Allgemeinmediziner waren jüdische Ärzte in Saarbrücken aktiv. Jüdische Arztpraxen konzentrierten sich zwar auf Saarbrücken, jüdische Ärzte ließen sich aber auch in anderen Städten und Orten des Saargebietes nieder wie etwa Sidney Jack Levinson in Homburg, Dr. Karl Lyon und Dr. Erich Meyer in St. Ingbert, Dr. Manfred Meyer in Blieskastel, Ludwig Wolff in Saarlouis, Dr. Siegfried  Alexander in Saarwellingen und Dr. Heinrich Mayer in Marpingen.   

22 jüdische Anwälte hatten sich 1933 im Saargebiet niedergelassen, das entsprach etwa 20 Prozent. Mit Blick auf einen Bevölkerungsanteil von nur knapp 0,6 Prozent zeigt sich eine in der Tat hohe Präsenz, die den Aufstieg von Juden in die gehobene Mittelschicht verdeutlicht. In der preußischen Rheinprovinz lag der Anteil der jüdischen Rechtsanwälte sogar bei 28,5 Prozent. Erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert war der Beruf des Rechtsanwaltes für Juden frei zugänglich. Generell wuchs die Zahl der Anwälte, die der jüdischen allerdings besonders stark, nicht zuletzt, weil jüdische Juristen im Staatsdienst recht chancenlos waren. Zu den bekannten Saarbrücker Anwälten zählten Albert und Eugen August, Dr. Hans Neureuter und Gustav Levy, der zuvor von 1913 bis 1922 als Anwalt in Saarlouis tätig gewesen war. Ferner Dr. Hugo Abraham und Dr. Karl Hirsch.

Im Saargebiet nahm vor allem ab der Jahrhundertwende und nach 1914 der Anteil jüdischer Ärzte und Rechtsanwälte deutlich zu und damit ein paar Jahrzehnte später als im  Deutschen Reich insgesamt.

Gesellschaftlicher Aufstieg über die Bildung

Über Bildung waren Juden im 19. Jahrhundert gesellschaftlich aufgestiegen. Im Jahr 1900 entfielen 65 Prozent der höheren Schulabschlüsse des Deutschen Reichs (höher als Volksschule) auf Juden. Der Anteil jüdischer Mädchen an Oberschulen lag 12,5 mal höher als der katholischer und evangelischer. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reduzierte sich dieser Abstand massiv. Damit kamen sich Juden und Christen näher, es entstanden Konkurrenzsituationen und auch im Zuge der wirtschaftlichen Probleme vor allem ab Ende der 1920er Jahre Neid und soziale Ausgrenzung.

So verwundert es auch nicht, dass der Boykott gegen die jüdische Ärzteschaft im April 1933 an der Saar auf fruchtbaren Boden fiel, denn auch innerhalb der Ärzteschaft hatten sich in den Krisenjahren der Weimarer Republik die Lebensbedingungen verschlechtert. Trotz akademischer Ausbildung erzielten nicht wenige Mediziner vergleichsweise geringe Einkommen. Man sprach von einer „Überfüllungskrise“, zwischen 1919 und 1932 war die Zahl der Ärzte und Ärztinnen in Deutschland von 33.230 auf 52.528 gestiegen. Konkurrenz machten der Ärzteschaft auch sogenannte „Laienbehandler“. Außerdem sahen die angehenden männlichen Mediziner in jungen Ärztinnen eine zusätzliche Konkurrenz. In der Weimarer Republik entwickelte sich der Beruf der Ärztin neben dem der Studienrätin zum bevorzugten akademischen Beruf von Frauen. Der etablierte Berufsstand versuchte die Frauen wieder heraus zu drängen und von der Zulassung fernzuhalten. Die aufkommende Akademikerarbeitslosigkeit erleichterte diese Ambitionen. Vor allem für junge Ärzte gestaltete sich die Lage schwierig und bereits Ende der 1920er Jahre zeigte sich eine Radikalisierung. Nicht zuletzt diese Verhältnisse begünstigten die Sympathie vieler Ärzte mit der NSDAP und der von ihr betriebenen Ausgrenzungspolitik jüdischer Mediziner. Durch diese verbesserten sich die Berufsperspektiven für arische Mediziner und vor allem ihre Einkommenssituation. Ganz abgesehen davon billigte die NS-Ideologie der Ärzteschaft eine herausragende gesellschaftliche Stellung zu, befriedigte nicht nur den Anspruch zur Elite zu gehören, sondern baute diesen sogar noch aus.

Ähnlich stellte sich die Situation bei den Rechtsanwälten dar. Zahlreiche Anwälte sorgten sich in den ausgehenden 1920er Jahren um ihre Existenz. Zu den umsatzstärksten Kanzleien, die lukrative Mandate der Saargruben, der Banken und der Eisen- und Stahlindustrie erhielten, zählten jüdische Rechtsanwaltspraxen. Der von den Nationalsozialisten angestrebte Boykott beziehungsweise Ausschluss von Juden aus dem Wirtschaftsleben bedeutete für alle Arier in diesen Branchen und Berufen die Chance, ihre materielle Situation rasch und ohne allzu große Mühen verbessern zu können. So erklärt sich, dass schon vor 1935 die Mehrheit der arischen Rechtsanwälte an der Saar dafür sorgte, ihren Berufsstand „judenfrei“ zu stellen und durch die Neugründung des „Vereins Saarbrücker Landgerichtsanwälte“ die Juden  faktisch auszuschließen.

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