Requiem für die Juden
Der in Paris lebende jüdische Bildhauer Shelomo Selinger schuf im Jahr 1980 für die St. Wendeler „Straße des Friedens“ die Skulptur „Requiem für die Juden“. Ein Jahr zuvor hatte der saarländische Künstler Leo Kornbrust diese „Straße der Skulpturen“ entlang des Saarlandrundwanderwegs zusammen mit seiner Frau Felicitas Frischmuth initiiert und damit eine Idee des jüdischen Bildhauers und Malers Otto Freundlich aufgegriffen. Kornbrust verstand diese Straße als Hommage an Freundlich, der von den Nationalsozialisten verfolgt schließlich im Konzentrationslager Sobibor den Tod fand. Freundlich hatte bereits in den 1930er Jahren die Vision, eine völkerverbindende Skulpturenstraße, die von Paris bis Moskau führt, zu schaffen. Er begriff diese als einen Weg der Brüderlichkeit und der menschlichen Solidarität. Sie sollte ein sichtbares Zeichen gegen Krieg und Gewalt setzen sowie für ein friedliches Zusammenleben der unterschiedlichen Nationen stehen, eine „Straße des Friedens“
Shelomo Selinger – Opfer des Nationalsozialismus
Auch der von Leo Kornbrust eingeladene Künstler Shelomo Selinger hatte das Schicksal der Verfolgung im Zweiten Weltkrieg dramatisch erlebt. Im Alter von 14 Jahren wurde er, am 31. Mai 1928 in Szczakowa in Polen geboren, zusammen mit seinen Eltern und seinen beiden Schwestern 1942 zunächst nach Faulbrück, ein Außenlager des KZ Groß-Rosen, verschleppt. Sein Vater wurde dort ermordet, auch die Mutter und eine Schwester verloren in der Folge ihr Leben. Shelomo wurde insgesamt in neun verschiedenen Konzentrationslagern interniert und musste an zwei Todesmärschen teilnehmen, zuletzt in das Ghetto Theresienstadt. Bei dessen Befreiung durch die Rote Armee war er so geschwächt, dass man ihn zunächst für tot hielt und zu den Leichen legte. Ein Militärarzt fand ihn und rettete ihm das Leben. Sieben Jahre litt Selinger an Amnesie und konnte sich an die Ereignisse seines Leidensweges nicht erinnern. 1946 wagte er den illegalen Weg nach Palästina, das noch unter britischem Mandat stand. Hier baute er zunächst mit anderen Einwanderern den Kibbuz Beit HaArava auf und später den Kibbuz Kabri.
Erst die Begegnung mit seiner zukünftigen Frau Ruth Shapirovsky im Jahr 1951 brachte sein Gedächtnis allmählich zurück und führte ihn zur Bildhauerei. Das Paar heiratete 1954 und ging 1955 nach Paris. Shelomo begann ein Kunststudium an der École des Beaux Arts. Von 1956 bis 1958 studierte er bei dem bekannten französischen Bildhauer Marcel Gimond. Selinger erhielt für sein künstlerisches Schaffen zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Unter anderem gewann er 1973 den ersten Preis für das Mémorial National im ehemaligen Sammel- und Durchgangslager Drancy, das er 1976 umsetzte. Ebenso realisierte er das Mémorial de la Résistance in dem Pariser Vorort La Courneuve sowie das 2018 eingeweihte Shoah-Mahnmal „Kaddisch“ für das Großherzogtum Luxemburg. Insgesamt schuf er bis heute über 800 Skulpturen aus Granit, Sandstein, Bronze und verschiedenen Hölzern, zahlreiche für den öffentlichen Raum. 1993 ernannte ihn der französische Staatspräsident François Mitterrand zum Ritter der Ehrenlegion, 2006 folgte die Ernennung zum Offizier der Ehrenlegion. Selinger lebt und arbeitet bis heute in Paris.
Obwohl sich gemessen an seinem bildhauerischen Gesamtwerk (im Gegensatz zu seinem graphischen Werk) nur wenige seiner Arbeiten mit dem Holocaust befassen, sind diese doch die eindrucksvollsten und sichtbarsten.
Leo Kornbrust und das Projekt der Straße des Friedens
Leo Kornbrust lud Selinger ein, an dem völkerverbindenden Projekt teilzuhaben, und sich für seine Skulptur vor Ort einen der von ihm zuvor in der Landschaft platzierten Steine auszusuchen. Selinger entschied sich für einen fünf Meter langen Block am südlichen Ufer des Bostalsees, in der Nähe des Römerhofes gelegen. In einem Brief an Leo Kornbrust schrieb er später: „Wie Sie wissen, bin ich nach St. Wendel gekommen in der Absicht, eine Skulptur zur Huldigung Otto Freundlichs zu machen. Schon nach dem ersten Hammerschlag habe ich begriffen, daß ich es nicht machen sollte. In der Tat, der Stein widersetzte sich, er wollte etwas anderes werden. Nun lauschte ich seinem Rhythmus, ohne den anfänglichen Vorstellungen zu folgen. In diesem Dialog wurde ich sein Partner. Nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager befand ich mich zum ersten Mal wieder in Deutschland. Die Freunde, die mich umgaben machten mir Mut. Je mehr ich den Stein bearbeitete, umso mehr kamen die Formen heraus. Vom Hammerschlag begleitet sang ich das „Requiem für die Juden“. (zitiert nach Rena Karaoulis, Die Straße der Skulpturen. Vom, Bildhauersymposion St. Wendel zur Straße des Friedens, Saarbrücken 2005, S. 178). Weiter erklärt er: „Arbeiten ist mir vielleicht noch mehr als das Ergebnis selbst. Die Bildhauerei ist für mich der Weg zur Freiheit. Wie der Tunnel, den der Gefangene zur Flucht gräbt. Bei diesem Tun ist er frei; weder vorher noch nachher. Sobald ich die Skulptur vollendet habe, trenne ich mich von ihr, um eine neue in Angriff zu nehmen, um weiter zu graben und zu graben…“. In den Bosener Stein schlug Selinger tunnelartige Kerben von gleicher Tiefe. Die einzelnen Formen der so entstandenen Reliefskulptur besitzen symbolische Bedeutung. Selinger beschreibt diese in seinem Brief so: „Die Figur ist wie folgt gegliedert: Links ein Mensch, der sich die Augen zuhält, um sein letztes Gebet zu sprechen. Unten links ein Cello, das ‚Requiem für die Juden‘ spielend. Rechts ein beobachtendes Auge. In der Mitte der Form ist ein hebräischer Buchstabe ‚lamed‘ zu sehen, er ist in der Kabbala das Zeichen für das menschliche Herz, welches die allumfassende Verständigung der Menschen ermöglicht. Zwei Kopfformen ganz unten bedeuten ‚Tod‘. Oben ist der Anfang eines Gebetes eingraviert als Antwortgesang. Auf der anderen Seite sind die Flammen der Erinnerung zu sehen. Eine das Volk segnende Hand als Zeichen befindet sich ganz oben.“
Mit seiner Skulptur für die „Straße des Friedens“ schuf Selinger ein Denkmal, ein Denkmal für die Millionen ermordeter Juden während des Zweiten Weltkriegs. Ihnen ist das „Requiem“, die Totenmesse, gewidmet. Obwohl das Cello scheinbar spielt, ist es dennoch ganz still, denn das Leid der Juden macht still. Diese Stille scheint ihm das einzig angemessene Requiem.