Antisemitismusschub mit dem Ersten Weltkrieg

Autor: Hans-Christian Herrmann

Wie die jungen Männer seiner Generation nahm auch der Saarbrücker Jude Eduard Lehmann am Ersten Weltkrieg teil. Der Dienst für Deutschland sollte ihm nicht gedankt werden, auch wenn er wie etliche andere jüdische Menschen für seine Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz geehrt wurde. - Foto privat, Sammlung Daniel Stiefel.

Wie die jungen Männer seiner Generation nahm auch der Saarbrücker Jude Eduard Lehmann am Ersten Weltkrieg teil. Der Dienst für Deutschland sollte ihm nicht gedankt werden, auch wenn er wie etliche andere jüdische Menschen für seine Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz geehrt wurde. - Foto privat, Sammlung Daniel Stiefel.

Wie die jungen Männer seiner Generation nahm auch der Saarbrücker Jude Eduard Lehmann am Ersten Weltkrieg teil. Der Dienst für Deutschland sollte ihm nicht gedankt werden, auch wenn er wie etliche andere jüdische Menschen für seine Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz geehrt wurde. - Foto privat, Sammlung Daniel Stiefel.

Mit dem Ersten Weltkrieg bekam der Antisemitismus mächtig Auftrieb. Zu Kriegsbeginn gab es wohl noch ein Gemeinschaftsgefühl. Der Antisemitismus der 1870er/1880er Jahre war zwar nicht gänzlich verschwunden, zumindest hatte er sich (scheinbar) nicht weiter verbreitet.

Im Zuge der Niederlagen änderte sich dies deutlich.  Ab dem zweiten Kriegsjahr begann eine Propaganda, Juden Drückebergerei und Zersetzung des Heeres zu unterstellen. Das preußische Kriegsministerium unter Adolf Wild von Hohenborn ordnete 1916 eine „Judenzählung“ an. Obwohl die ermittelten Zahlen alle Vorwürfe als Lüge entlarvten, wurden sie erst Jahre später 1922 veröffentlicht.

Propagandistisch wurde weiterhin aber das Gegenteil verbreitet,  insbesondere von zahlreichen völkischen und militaristischen Vereinen wie dem Alldeutschen Verband, dem Deutschen Schutz- und Trutzbund und dem Reichshammerbund. Letzterer behauptete, eine Lösung der Judenfrage sei ein deutsches Kriegsziel und der Alldeutsche Verband gab die Parole aus, Juden zu „Blitzableitern für alles Unrecht“ zu erklären. Diese antisemitische Erklärung eines wegen der Juden verlorenen Krieges wurde in  den folgenden Jahren bis zur „Machtergreifung“ Hitlers verbreitet.

Dabei war für viele deutsche Soldaten mit jüdischen Wurzeln oder israelitischem Glauben  die Teilnahme am Ersten Weltkrieg eine Selbstverständlichkeit, ein Beweis ihres Bürgersinns und Patriotismus, ihrer nationalen Identifikation mit dem Deutschen Kaiserreich.

Ihre Teilnahme am Krieg wie auch das Erlebnis an der Front unterschied sich in keiner Weise von dem ihrer katholischen oder protestantischen Kameraden. Als der Saarbrücker Rechtsanwalt Paul Cohen 1935 aus dem Saarbrücker Offiziersverein ausgeschlossen wurde, war das für ihn eine tiefe Kränkung. Als Leutnant war er im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz Zweiter Klasse ausgezeichnet worden. Er war bis Anfang der 1930er Jahre ein angesehener Mann und auch Mitglied der Saarbrücker Casinogesellschaft, in der die Saarbrücker Elite versammelt war. Verbittert und verängstigt verließ er 1936 das Saargebiet, emigrierte mit seiner Frau nach Straßburg und starb dort 1938 an einem Herzleiden. Seine Frau überlebte mit großem Glück den Holocaust.

Auch der Vater der heute bekannten und im Jahr 2021 verstorbenen Esther Bejarano war 1914 wie viele deutsche Männer als Soldat in den Ersten Weltkrieg gezogen. Seine rechte Hand wurde im Krieg schwer verletzt. Für den musikalischen Mann, der vorher unter anderem als Klavierlehrer gearbeitet hatte, eine Katastrophe, die er aber dennoch verkraftete. Auch er war Träger des Eisernen Kreuzes und aus der Erfahrung des Weltkrieges lag für ihn die totale Ausgrenzung jüdischen Lebens lange Zeit außerhalb des Vorstellbaren – hatte er doch für Deutschland gekämpft und war schwer verwundet heimgekehrt.

Der Kriegsdienst war Zeichen der Zugehörigkeit zu Deutschland und ein erbrachtes Opfer für die deutsche Nation. Erst 1937 erkannte Esther Bejaranos Vater die Dimension der ihm und anderen jüdischen Menschen  drohenden Gefahr. Bejarano fühlte wie viele assimilierte Jüdinnen und Juden, die ein liberal-humanistisches Menschenbild pflegten. Für sie war das Eindringen der Ideologie des deutschen Rassewahns und des Antisemitismus in die deutsche Gesellschaft einfach unvorstellbar.

Schreiben des jüdischen Musikers Darius Strauss vom 4.6.1936 an die Theater- und Musikgesellschaft Saarbrücken. - Stadtarchiv Saarbrücken, Bestand Großstadt Nr. 2298.

Schreiben des jüdischen Musikers Darius Strauss vom 4.6.1936 an die Theater- und Musikgesellschaft Saarbrücken. - Stadtarchiv Saarbrücken, Bestand Großstadt Nr. 2298.

Schreiben des jüdischen Musikers Darius Strauss vom 4.6.1936 an die Theater- und Musikgesellschaft Saarbrücken. - Stadtarchiv Saarbrücken, Bestand Großstadt Nr. 2298.

Schreiben des jüdischen Musikers Darius Strauss vom 4.6.1936 an die Theater- und Musikgesellschaft Saarbrücken. - Stadtarchiv Saarbrücken, Bestand Großstadt Nr. 2298.

Schreiben des jüdischen Musikers Darius Strauss vom 4.6.1936 an die Theater- und Musikgesellschaft Saarbrücken. - Stadtarchiv Saarbrücken, Bestand Großstadt Nr. 2298.

Schreiben des jüdischen Musikers Darius Strauss vom 4.6.1936 an die Theater- und Musikgesellschaft Saarbrücken. - Stadtarchiv Saarbrücken, Bestand Großstadt Nr. 2298.

Werbung des Saarbrücker Kaufhauses Israel – Signal der Solidarität, - Saarbrücker Zeitung, 15.12.1914.

Werbung des Saarbrücker Kaufhauses Israel – Signal der Solidarität, - Saarbrücker Zeitung, 15.12.1914.

Werbung des Saarbrücker Kaufhauses Israel – Signal der Solidarität, - Saarbrücker Zeitung, 15.12.1914.

Dass ein paar Jahrzehnte später die NS-Diktatur einen so gewalttätigen und radikalen Antisemitismus entwickeln würde, war für viele jüdische Menschen einfach unvorstellbar, hatten sie sich doch auch in gewissem Maße an den Antisemitismus als gesellschaftliche Realität gewöhnt. Jüdische Männer und Frauen fühlten sich als Teil der deutschen Nation und sie waren in Teilen genauso nationalistisch wie viele ihrer nicht-jüdischen Mitbürger. So feierten sie bei der Rheinischen Jahrtausendfeier 1926 mit und verurteilten die Besetzung der Rheinlande durch französische Truppen.

Auch sie fühlten sich 1870 vom Spichernerlebnis in ihrer nationalen Orientierung bestärkt. So gab die Redaktion der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ 1871 in Bonn ein Gedenkbuch an den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 für die deutschen Israeliten heraus. Myrtil Lazard, St. Johanner Bankier, besaß dieses Buch und schenkte es der Sammlung des Historischen Vereins für die Saargegend, dem er seit 1880 angehörte. Heute befindet es sich in der Saarbrücker Stadtbibliothek.  

Als Reaktion auf den im Zuge des Ersten Weltkrieges wachsenden Antisemitismus gründete Leo Löwenstein im Februar 1919 den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. 85.000 jüdische Männer hatten für Deutschland gekämpft, 12.000 starben für Deutschland. Leo Baeck  (1873-1956, Rabbiner) sagte 1945 nach seiner Befreiung aus dem KZ-Theresienstadt: „Unser Glaube war, dass deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden könnten“. Juden fühlten sich als Teil der deutschen Gesellschaft, umso schmerzhafter war für sie die Ausgrenzung durch den wachsenden Antisemitismus, die dann in der NS-Zeit eine für sie unvorstellbare Brutalität entwickeln sollte.      

Der mit dem Ersten Weltkrieg wieder hervortretende Antisemitismus vermischte sich ab 1918/1919 auch mit der Wahrnehmung der Niederlage und des Versailler Vertrages.

„Dolchstoßlegende“ - Einfache Erklärungen für die Urkatstrophe des 20. Jahrhunderts

Ludendorffs und Hindenburgs „Dolchstoßlegende“ - wie in Frankreich die Dreyfus-Affäre (1898-1906) eine Verschwörungstheorie im Zeichen von Nationalismus, Ausgrenzung und Republikfeindlichkeit – machte die demokratischen Politiker der Weimarer Republik für die Niederlage, die alleinige Kriegsschuld bzw. für die empfundene Schande von Versailles verantwortlich, aber auch die Juden. Ludendorff sprach von einer „jesuitisch-freimaurerisch- jüdischen Weltverschwörung“. Damit verbunden das hetzende Bild vom Juden als Kriegsgewinnler und Schieber, der sich im Krieg am deutschen Volk bereichert habe. Die dem Kaiserreich verbundenen Kräfte bzw. die nationalistischen und antiparlamentarischen Kreise beanspruchten eine Meinungsführerschaft, sahen sie doch ihre Privilegien mit der Republik untergehen. Das Deutsche Kaiserreich war ein Militärstaat gewesen. Das Militär hatte trotz Gleichstellung der Juden diesen den Aufstieg in den Militärdienst verwehrt. Mit der Weimarer Republik ging seine Macht zurück. Ähnlich wie in Frankreich entwickelten diese Kräfte  einen massiven Antisemitismus, wonach Juden die nationale Einheit zerstörten und deshalb auszugrenzen seien. Auch in Frankreich waren die Träger des Antisemitismus vor allem Republikgegner bzw. Monarchisten. Durch die Französische Revolution von 1789 hatten die Juden die Bürgerrechte gewonnen.

Diese Propaganda blieb nicht ohne Wirkung. Der Erste Weltkrieg gilt als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Er war der erste technisierte Krieg, verbunden mit dem Einsatz von Giftgas, hinterließ Millionen traumatisierter Männer und 1,5 Millionen Kriegsbeschädigte allein in Deutschland. Nicht nur an der Front, auch im Deutschen Reich selbst sorgte der Krieg für Not und Elend, ca. 800.000 Menschen verhungerten. Für all dieses Leid machte die antisemitische Propaganda die  Juden verantwortlich.

Antisemitismus, um vom eigenen Versagen abzulenken

Mit dieser Propaganda entzogen sich die Militärs und die Eliten des Kaiserreichs ihrer Verantwortung für den Ersten Weltkrieg, die deutsche Niederlage und die Folgen ihres Handelns. Ihren Machtverlust hatten sie bereits in den letzten Kriegsjahren erkennen können, als der Kaiser notgedrungen das Parlament gestärkt hatte, um die Akzeptanz des Krieges in der Bevölkerung zu stabilisieren. Es gelang ihnen, ihre Verantwortung für den Niedergang der Nation auf die Republik und ihre demokratisch gewählten Politiker abzuwälzen, und damit auch auf die Juden. So bezeichneten sie die Weimarer Republik von Anfang an als „Judenrepublik“. 

Die Anzahl und das Ausmaß der Krisen im Zeitraum von der Gründung der Weimarer Republik 1919 bis zur „Machtergreifung Hitlers“ 1933 sind einzigartig in der deutschen Geschichte. Zwei Hyperinflationen 1922/1923 und 1929 stürzten weite Teile der Gesellschaft in Hunger und Elend und raubten dem Mittelstand seine Ersparnisse. Auch hier war immer wieder die Rede von der Verschwörung des Weltjudentums und des jüdischen Finanzkapitals. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten viele Deutsche bereits Vermögen verloren. Die Kriegsanleihen, mit denen der Erste Weltkrieg auf Pump und in der Hoffnung auf Sieg finanziert wurde, waren mit der Niederlage wertlos geworden. Die Massenarbeitslosigkeit im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929 stürzte Millionen Menschen ins Elend. Angesichts dieser enormen wirtschaftlichen Erschütterungen entwickelten weite Teile der Bevölkerung kein Vertrauen in den neuen demokratischen Staat, der über die Jahre hinweg immer wieder erschüttert wurde und keine politische Stabilität gewann. Zwischen 1919 und 1928 gab es zehn Regierungen. Mit den Präsidialregierungen [vom Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Verfassung ohne Wahl eingesetzt] ab 1928 gewannen die antirepublikanischen Kräfte immer mehr Einfluss und im Zuge dieser Entwicklung ernannte Reichskanzler von Hindenburg dann Adolf Hitler zum Reichskanzler. Zum Extremismus rechter Monarchisten, Militaristen und Nationalisten kam der Linksextremismus der Kommunisten, die die Republik wegen der gescheiterten Novemberrevolution 1918 ablehnten und bekämpften. NSDAP und KPD wollten die Demokratie vernichten und verlagerten den politischen Kampf auf die Straße, damit verbunden Straßenschlachten, Putschversuche, separatistische Bewegungen und politischer Terror. Dies führte zum Verfall staatlicher Autorität.