Die Erzählung der jüdischen Weltverschwörung als ein europäisches Phänomen im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche

Autor: Hans-Christian Herrmann

Weiten Teilen des Adels, des Militärs und anderer Stützen des Kaiserreichs erschien die Weimarer Republik als „Judenrepublik“, die ihnen ihre Privilegien genommen hatte. Das Weltjudentum sei verantwortlich für den Niedergang des Kaiserreichs, die Kriegsniederlage, die Novemberrevolution von 1918 und die von ihnen verhasste Republik.

Die Behauptung einer jüdischen Weltverschwörung, die Nationen gezielt in Krisen führe und sie zerstören wolle, war wesentlich mit dem Propagandamachwerk der Protokolle der Weisen von Zion verbunden.

Die Protokolle der Weisen von Zion  

Diese erfundenen bzw. gefälschten Protokolle wurden 1903 erstmals veröffentlicht und weltweit publiziert, so auch allein in Deutschland in 33 Auflagen zwischen 1919 bis 1933. Sie erreichten weltweit schon vor der „Machtergreifung“ Hitlers Millionen von Menschen. Es handelte sich dabei um eine Sammlung antisemitischer Texte und Protokolle angeblicher jüdischer Geheimsitzungen, die den Aufbau einer jüdischen Weltherrschaft beweisen sollten. Spätestens seit 1921 war erwiesen, dass es sich um eine Fälschung des zaristischen Geheimdienstes handelte, 1934 auch durch ein Schweizer Gerichtsurteil bestätigt. Diese Protokolle kursieren übrigens bis heute, insbesondere in islamischen Ländern. Bereits nach dem Holocaust wurden sie zu dessen Leugnung eingesetzt und auch von kommunistischen Ländern im Kampf gegen den Staat Israel.

Vermischung von Antibolschewismus und Antisemitismus

Sie förderten die Vermischung des Antisemitismus mit dem Antibolschewismus. In Russland sollten sie die bolschewistische Revolution als eine internationale jüdische Verschwörung erscheinen lassen. Die Verknüpfung mit dem Antibolschewismus erhöhte die Empfänglichkeit insbesondere des Bürgertums für den Antisemitismus und bestärkte bereits bestehende Vorbehalte gegenüber jüdischen Menschen.

Adolf Hitler verarbeitete die Protokolle in seiner Schrift „Mein Kampf“, die bereits 1919 in 120.000 Exemplaren sozusagen zu einem Bestseller auch in Deutschland geworden waren. Seine Schrift wurde bis 1945 in 16 Sprachen übersetzt und 12,5 Millionen Exemplare davon verkauft.

Diese antisemitischen Erzählungen im Kontext einer sich massiv verändernden Welt verbreiteten sich millionenfach in ganz Europa und in den USA - in Deutschland trug neben Hitler vor allem Alfred Rosenberg dazu bei, in Frankreich Charles Maurras und die Action Française sowie in Spanien der Francismus. Weltweit wirkte ebenso die Hetzschrift des fanatischen Antisemiten und Autokönigs Henry Ford, die auch in deutscher Sprache erschien. Hinzu kommen unzählige antisemitische Hetzschriften wie etwa „Das verjudete Frankreich“, die deutsche Übersetzung der Hetzschrift von Drumont. Sie war 1886 erstmals in Frankreich veröffentlicht worden und ein Bestseller mit mehr als 200 bis 1945 erschienenen Auflagen.     

Während sich in Westeuropa ab den 1880er Jahren eine antisemitische Geisteshaltung entwickelte, wurde Osteuropa zu einem antisemitischen Schlachtfeld. Allein die Judenpogrome zwischen 1881 und 1908 trieben über 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden aus Russland in die Migration, über 300.000 aus Österreich-Ungarn und 100.000 aus Rumänien. Hunderttausende von jüdischen Menschen wurden geschändet und ermordet, teilweise lebend verbrannt. Fast 2 Millionen von ihnen flohen in die USA, andere vor allem nach Frankreich und mit Abstand auch nach Deutschland. Nach dem Ersten Weltkrieg brach der Flüchtlingsstrom keineswegs ab, da Tschechen, Polen, Rumänen, Ukrainer und andere Völker sich als Nation selbstbestimmen wollten und jüdische Menschen  ausgrenzten. Allein in der Ukraine ereigneten sich zwischen November 1918 und 1920  mehr als 1.500 Pogrome.  Die USA ließen nun einen weiteren Zustrom von Flüchtlingen nicht mehr zu, Frankreich rettete sie, vor allem Paris wurde für viele osteuropäische Jüdinnen und Juden zur neuen Heimat, mit Abstand auch Deutschland und hier die Metropole Berlin.       

Ostjüdische Menschen lebten im Unterschied zu den deutschen Jüdinnen und Juden ihre religiöse und kulturelle Verbindung zum Judentum im Alltag und waren meistens nicht assimiliert. Sie waren vielfach arm und weniger gebildet. Dies führte auch zu Spannungen innerhalb der jüdischen Gemeinden. Schon in der Vorkriegszeit war ihre Zahl in Deutschland von ca. 12.000 im Jahr 1890 auf ca. 78.000 im Jahr 1910 gewachsen. Infolge des Arbeitskräftemangels während des Ersten Weltkrieges setzte Deutschland 35.000 ostjüdische Menschen als Zwangsarbeiter ein. Zugleich wurden in der Stunde der Niederlage und des Zusammenbruchs gerade diese ostjüdischen Menschen zu unerwünschten Personen erklärt und 1920 begann auch die preußische Regierung sie auszuweisen. 1921 wurden unerwünschte Ausländer interniert. Die von der Reichswehr bewachten Lager wurden als „Konzentrationslager“ bezeichnet, sind aber mit den KZ’s der NS-Zeit nicht zu vergleichen, im Dezember 1923 wurden sie aufgelöst. Auch in Frankreich, das zu dieser Zeit großzügig wie kein anderes Land in Europa Flüchtlingen Asyl gewährte, mehrten sich im Kontext der wirtschaftlichen Krisen der 1920er Jahre Vorbehalte insbesondere gegenüber der ostjüdischen Bevölkerung.