Wachsender Antisemitismus im Zeichen der bevorstehenden Saarabstimmung 1935
Mit dem Heranrücken der Saarabstimmung 1935 und der von der Mehrheit gewünschten Rückkehr zu Deutschland nahmen antisemitische Vorfälle deutlich zu.
Das politische Klima verschärfte sich auch infolge der Weltwirtschaftskrise 1929 und der mit ihr verbundenen sozialen Verelendung. Auch wenn die Krise an der Saar sich nicht ganz so extrem auswirkte wie im Deutschen Reich, so kam es dennoch zu Lohneinbußen von 20 Prozent bei zugleich massiv steigenden Preisen. Viele Menschen wurden arbeitslos. Bereits 1930 gab es in Saarbrücken Nachtlager für 19.000 Obdachlose, Anfang 1933 waren weitere 280 Familien in Saarbrücken obdachlos geworden. Fast 10.000 Menschen waren 1932/33 arbeitslos, das Vier- bis Fünffache der Quote der Vorjahre. Die Wirtschaftskrise erschütterte die Gesellschaft, die Stadtverwaltung erfasste allein für Saarbrücken ca. 1000 Alkoholiker und die Fürsorge registrierte 540 junge Frauen, die in die Prostitution abzurutschen drohten.
Antisemitische Vorfälle häuften sich – allerdings nicht so wie im Reich. Dort gab es Überfälle und Brandanschläge auf Synagogen und am 12. September 1931 hatten sich in Berlin 500 SA-Mitglieder antisemitische Krawalle unter der Parole „Deutschland erwache – Juda verrecke“ geliefert. Bei den Landesratswahlen 1932 erreichte die NSDAP an der Saar nur 6,7 Prozent der Stimmen und trotzdem nahmen antisemitische Zwischenfälle zu.
Gewalt gegen jüdische Menschen auf offener Straße
So war es im Januar 1931 bei einer NS-Versammlung in St. Ingbert zu antisemitischen Parolen gekommen. Ein Jahr später überfielen im Januar 1932 sieben SA-Männer eine jüdische Pension in der Saarbrücker Bahnhofstraße. In Dillingen riefen SA-Männer am 2. April 1933 öffentlich zum Judenboykott auf und die Zeitung NSZ-Rheinfront verschärfte ihre antisemitische Propaganda. Ab Frühjahr 1933 wurden immer wieder Boykottaufrufe gegen jüdische Geschäfte gestartet. Schaufenster jüdischer Geschäfte wurden heimlich mit kleinen Zetteln beklebt, versehen mit einem Hakenkreuz und dem Aufdruck „Deutsche, kauft nichts beim Juden.“ Die Regierungskommission versuchte gegenzusteuern und verbot die NSDAP-Wochenschrift „Der Stürmer“. Wieder in Dillingen wurde Mitte Juni 1933 ein jüdischer Kaufmann aus Saarbrücken vom NSDAP-Ortsgruppenleiter öffentlich angepöbelt und zur selben Zeit kam es zu einer Meuterei der Freiwilligen Feuerwehr Wiebelskirchen gegen ihren jüdischen Brandmeister. Am 19. Juni 1933 berichtete die Volksstimme über Hakenkreuzschmierereien an einem jüdischen Kaufhaus in Saarbrücken und am 21. Juni von einem Boykottaufruf gegen ein jüdisches Geschäft. Als Ausdruck der aufgeheizten Stimmung sah sich ein Saarbrücker Kaufmann dazu veranlasst, an einem Schaufensteraushang seine nicht-jüdische Abstammung zu bekunden, um sich vor Beschädigungen und Störungen zu schützen. Am 24. Juni 1933 informierte die Volksstimme über eine Parteianordnung der NSDAP-Saar, es solle dafür gesorgt werden, dass kein Saarländer der Vermögensveräußerung von „Nichtchristen und Marxisten“ Vorschub leiste, eine Verschiebung von Vermögenswerten ins Ausland sei zu verhindern. Damit sollte jüdische Menschen der Verkauf ihres Vermögens zur Finanzierung ihrer Emigration erschwert werden.
Der bekannte jüdische Rechtsanwalt Dr. Levy musste im Frühjahr 1934 feststellen, dass seine Anwaltsbank im Saarbrücker Landgericht mit „Juddestinker verrecke“ beschmiert wurde. Dieser Vorfall lässt vermuten, dass Beamte des Landgerichts wegschauten, vielleicht selbst die Täter waren oder diese zumindest unterstützten. Antisemitismus in der Justiz war an der Saar wie im Reich keine Seltenheit. Dies veranlasste das für das Justizwesen zuständige Mitglied der Regierungskommission, den Jugoslawen Dr. Milovan Zoricic, die Unabhängigkeit der Saargebiets-Justiz in Frage zu stellen. Er forderte die Bildung neutraler Sondergerichte, auch um ein Übergreifen des im Reich legal geförderten Antisemitismus an der Saar zu verhindern. Begründet wurde diese Forderung mit Äußerungen eines Landgerichtsdirektors über angebliche jüdische Ritualmorde sowie mit einem Scheidungsurteil, das jüdische Menschen diffamierte und abwertend von einer spezifisch jüdischen Mentalität sprach. Diese, den Antisemitismus eindämmenden Bemühungen, sollen an den übrigen Mitgliedern der Regierungskommission gescheitert sein.
Kinder machen Jagd auf ihre jüdischen Mitschüler, der Antisemitismus kommt in der Mitte der Gesellschaft an
Antisemitismus war Anfang der 1930er Jahre in der Mitte der saarländischen Gesellschaft angekommen und wurde immer stärker, je näher der Termin der Saarabstimmung heranrückte. Forciert wurde diese Entwicklung mit Hitlers „Machtergreifung“ im Reich 1933. Jüdische Schülerinnen und Schüler wurden beschimpft und gemieden. Kinder, die am jüdischen Religionsunterricht an der Saarbrücker Oberrealschule teilnahmen, wurden auf ihrem Schulweg von anderen Kindern zusammengeschlagen. Seit Juli 1933 kam es vermehrt zu körperlicher und verbaler Gewalt, zu Sprüchen von Kindern und Jugendlichen, die sie von Erwachsenen übernahmen und gegen ihre jüdischen Mitschüler einsetzten. Sprüche wie „Wartet nur, 1935 wird es Euch schlecht ergehen! Beeilt Euch, damit Ihr noch den letzten Zug nach Forbach bekommt! 1935 wird die Einbahnstraße nach Jerusalem gebaut und mit Judenköpfen gepflastert!“ Häufig wurden jüdische Jungen und Mädchen gezwungen „Heil Hitler“ zu rufen, inszeniert als ein Ritual der Demütigung. Ein bei einer Schlägerei um Hilfe gebetener Lehrer meinte: „Was außerhalb der Schule geschieht, kann ich nicht untersuchen und bestrafen“. Schon vor 1935 war in manches Klassenzimmer das „Führerbild“ eingezogen. Im Zuge eines gesellschaftlich sichtbaren Antisemitismus der Erwachsenen begannen nun arische Kinder und Jugendliche ihre jüdischen Mitschüler auszugrenzen, zu erniedrigen und wie rechtlose Menschen zu behandeln.
Die Synagogengemeinde bildete eine eigene Schulbehörde und reagierte am 1. April 1934 auf die Gewalt an jüdischen Kindern. Auf Betreiben von Rabbiner Rülf eröffnete sie eine vierklassige jüdische Volksschule in Saarbrücken. Dort wurde auch hebräisch unterrichtet, gerade aus zionistischer Sicht ein wertvoller Beitrag und unverzichtbar, um einen eigenen Staat Israel aufzubauen.
Im Mai 1934 beschmierten Antisemiten den jüdischen Friedhof in Saarbrücken an der Goldenen Bremm mit „Judentod beseitigt Saarlands Not“. Die Ausgrenzung und Gewalttätigkeit war unübersehbar und wurde immer schärfer. Ende Mai 1934 wurde ein holländischer Jude, der in Saargemünd wohnte, auf dem Saarbrücker Neumarkt von NS-Aktivisten zusammengeschlagen.
Erfolgreiche Boykottaufrufe gegen jüdische Geschäfte
Am 1. April 1933 hatte die NSDAP im Reich zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. Auch wenn dieser Boykott nicht die Erwartungen der Nazis erfüllt hatte, so traf er doch viele jüdische Menschen hart.
Obwohl die Saar noch nicht zu Hitler-Deutschland gehörte, fand der von der NS-Presse auch an der Saar ausgerufene Boykott Unterstützer. Der Boykott wurde sicherlich auch durch eine gewisse Neiderfahrung begünstigt. Gerade im dicht besiedelten Saargebiet sah man, wer es zu Wohlstand gebracht hatte: Der Saarbrücker Herrenausstatter Adler konnte sich ein kleines Vermögen aufbauen und ein Wohnhaus in der Lessingstraße 3 erwerben sowie ein Geschäftshaus in der Viktoriastraße 13. Leo Oppenheimer, Inhaber vom Bamberger & Hertz, erwarb Häuser am Triller, in der Prinz-Friedrich-Karl-Straße (heute Graf-Philipp-Straße) sowie in der Försterstraße und besaß Grundstücke Am Schmittenberg in Scheidt und hatte dort eine prächtige Villa gebaut. Die Inhaber des Leder- und Spielwarenhauses Japhet wohnten in einem Haus am Triller in der Nussbergstraße 10.
Die Folgen des Boykotts wurden immer sichtbarer, denn jüdische Geschäfte gaben auf. Die antisemitische Hetze hatte für jüdische Kaufleute an der Saar zur Folge, dass Geschäftsverbindungen zusammenbrachen und Umsätze bis zur Unrentabilität zurückgingen.
Drohung, Nötigung und Zerstörung
Dieser Prozess begann schon vor der Rückgliederung 1935 und hatte einen Rückzug aus dem Geschäftsleben oder die Geschäftsaufgabe zur Folge. Häufig kam es zu organisierten Sachbeschädigungen jüdischen Eigentums wie beispielsweise bei der Saarbrücker Zigarettenfabrik Osman Pascha in der Mainzer Straße 27. Die von Pascha aufgestellten Zigarettenautomaten wurden zerstört und zahlreiche Gastwirte bezogen ihre Tabakwaren nicht mehr von ihm. Nicht selten erhielten jüdische Geschäftsleute Drohbriefe, wie etwa Hermann Graff, Inhaber des „Saarbrücker Möbel- und Spezialhauses“. 1934 ging ein Brief bei ihm ein: „Graff, jetzt musst du deine Koffer packen. Deine Stunde hat geschlagen“. Im September 1934 gab er sein Geschäft auf.
Ähnliche Drohbriefe erhielten das 1934 geschlossene Schuhhaus Herz, die Kleiderfabrik Strauß & Co oder Japhet, das Spezialhaus für Leder- und Spielwaren, das zum 1. März 1934 von Orth übernommen wurde. Bei „Geschwister Wollenberger“, einem Saarbrücker Modegeschäft in der Bahnhofstraße, halbierte sich 1933 der Umsatz, 1934 hatte das Geschäft nur noch ein Drittel seiner bisherigen Kundschaft. Auch Moritz Cahnmann, Inhaber der Elsässischen Brennereigesellschaft in der Breite Straße in Saarbrücken, musste schließen, weil seit Ende 1932 die Kunden ausblieben.
Insbesondere NS-Frauen pöbelten und boykottierten gegen jüdische Geschäfte.
Eine Methode der Existenzvernichtung bildete die Unterwanderung von jüdischen Betrieben. Opfer dieser Strategie wurde etwa das Kaufhaus Weil in Saarbrücken. Am jüdischen Neujahrsfest 1934 wurden vom Balkon des Geschäftshauses kommunistische Flugblätter geworfen. Daraufhin wurde der Geschäftsführer Dr. Köster von NSDAP-Funktionären gezwungen, in der Tagespresse eine Erklärung zu publizieren, in der er diesen Vorfall verurteilte. Zudem wurden immer wieder am Eingang des Geschäftshauses Weil von der NSDAP Posten aufgestellt, die zum Teil aus den Reihen der Belegschaft kamen, um die Kunden am Betreten des Kaufhauses zu hindern. Damit nicht genug: Im Innern des Gebäudes postierte die NSDAP einen Blockwart, der die Geschäftsleitung wie auch das Personal bespitzelte, gegen die Geschäftsleitung agitierte und die Arbeitsatmosphäre
unerträglich machen sollte. Diese Entwicklung veranlasste immer mehr jüdische Kaufleute, bereits vor 1935 ihre Firma zu verkaufen. Die Familie Becker als Eigentümer des Kaufhauses Sinn in Saarbrücken erwarb bereits 1932 das Textilgeschäft Lyon & Söhne. Das der Familie Oppenheimer gehörende Kaufhaus Bamberger & Hertz erwarb Moeller & Schaar und aus dem Kaufhaus Weil wurde Weinhold. Robert Kunz übernahm das Kaufhaus Israel.
Die Maßnahmen gegen das Kaufhaus Weil entsprachen der von der NSDAP eingeübten Praxis im Gau Pfalz. Am 17. März 1933 war dort angewiesen worden, in jeder Ortsgruppe einen Überwachungsdienst einzurichten, der kontrollieren sollte, wer jüdische Geschäfte besucht sowie jüdische Rechtsanwälte und Ärzte konsultiert. Mit Terror gegen diejenigen, die dem Boykott nicht folgen wollten, sollte von Anfang an recht wirksam einer möglichen Solidarisierung oder Empathie entgegengewirkt werden.
Boykott gegen jüdische Ärzte und Rechtsanwälte
Auch der Boykott gegen jüdische Ärzte fiel an der Saar ab April 1933 auf fruchtbaren Boden. Alle nicht-arischen Ärzte schlossen die Nazis im Reich 1933 zunächst von der Privatliquidation aus, fünf Jahre später auch von den staatlichen Ersatzkassen. Verbeamtete jüdische Ärzte wurden mit wenigen Ausnahmen in den sofortigen Ruhestand versetzt. Auch die jüdischen Ärzte an der Saar bekamen den Boykott bereits vor der Rückgliederung zu spüren.
So gingen beispielsweise bei dem Allgemein- und Kinderarzt Rudolf Fromm, der in Luisenthal praktizierte, 1934 die Einnahmen schon um 20 Prozent zurück, von 1935 bis 1936 um 50 Prozent und 1937 dann um 85 Prozent und das in einer Gegend mit hohem Anteil an Bergmännern und Hüttenarbeitern, wo von früheren Wählern der KP und Sozialdemokratie auszugehen ist. Boykott bedeutete eben auch die Einschüchterung derer, die nicht antisemitisch dachten. Wer trotzdem Kontakt pflegte, riskierte Repressalien. Auch innerhalb des Berufsstandes der Rechtsanwälte begann vor 1935 die Ausgrenzung der jüdischen Kollegen. Die Mehrheit der arischen Rechtsanwälte an der Saar wollte ihren Berufsstand von „jüdischen Menschen frei“ machen, dazu organisierten sie die Neugründung des „Vereins Saarbrücker Landgerichtsanwälte“.
Der erfolgreiche Saarbrücker Anwalt Hans Philippi, ein Katholik und eher unpolitisch, wurde diffamiert. Er hatte sich geweigert, der Deutschen Front beizutreten. Am 14. Juli 1934 wurde er aus dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer abgewählt, kurze Zeit später emigrierte er.
Die Ausgrenzung der jüdischen Menschen wurde von einer wohl eher geringen Anzahl von Personen aktiv betrieben, der sich die Mehrheit aber ohne erkennbaren Widerstand beugte. Zu erklären ist dies partiell mit dem Druck und Mob der Straße, wohl aber auch mit gesellschaftlich verbreiteten antisemitischen Denkmustern, die das Wegschauen erleichterten. Hinzu kommt, dass insbesondere nicht-jüdische Kaufleute, Rechtsanwälte und Ärzte massiv von der Ausgrenzung ihrer jüdischen Konkurrenten profitierten.
Der Einfluss der Kirchen auf die damalige Bevölkerung an der Saar war bedeutsam, dies gilt insbesondere für die katholische Kirche. Weder von ihr noch von der evangelischen Kirche war ein Bekenntnis gegen den Antisemitismus zu hören.