Jüdische Menschen als Sündenböcke für Krisen und alles Unglück dieser Welt

Autor: Hans-Christian Herrmann

Auch wenn das 19. Jahrhundert jüdische Menschen zu gleichberechtigten Staatsbürgern machte, so gab es bereits in den Jahren  vor und bereits kurz nach ihrer rechtlichen Gleichstellung offenen Judenhass. Neid war dabei eine Triebfeder. Beispielhaft für dieses primitive Denken steht etwa der weltberühmte Komponist und Dichter Richard Wagner, der 1850 zunächst noch unter Pseudonym seine Hetzschrift „Das Jüdische Menschenthum in der Musik“ publizierte. 1869 traute er sich sogar das Pamphlet unter seinem Namen zu veröffentlichen.

Juden als Schuldige für die Gründerkrise

Nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1870/71 war es zu einer als Gründerkrise bezeichneten Wirtschaftsflaute gekommen. Ursache waren Überproduktion und Spekulation. Es wurde aber das Judentum zum Schuldigen erklärt und das Bild des raffgierigen jüdischen Kapitalisten und Strippenziehers gezeichnet. Damit verbunden auch das Wort von „wucherischen Zinsen“, das insbesondere auch bei Bauern gut ankam. Juden waren traditionell im Viehhandel stark vertreten und die deutsche Landwirtschaft erlebte seinerzeit bis 1890 eine Reihe von Krisen. Dabei litten auch jüdische Menschen  unter der Gründerkrise. Und von Seiten der Banken erhielten Bauern keine Kredite, wohl von Juden, die teilweise ein sehr hohes Risiko eingingen. Verbreitet wurde dieses Zerrbild von antirepublikanischen und rechtsstehenden Kreisen wie auch von Teilen der Linken. So wurde die soziale Frage mit der jüdischen Frage verbunden. Es wurde behauptet, skrupellose jüdische Geschäftstüchtigkeit verschärfe die soziale Not.

Die Welt des Warenhauses als Projektionsfläche des neuen Judenhasses

Mit den Kauf- und Warenhäusern wurden viele Produkte wesentlich günstiger. Wenn neue Waren kamen oder auch zu bestimmten Anlässen, gab es Sonderangebote. Werbung 1928 - Saarbrücker Zeitung, 29.7.1928

Mit den Kauf- und Warenhäusern wurden viele Produkte wesentlich günstiger. Wenn neue Waren kamen oder auch zu bestimmten Anlässen, gab es Sonderangebote. Werbung 1928 - Saarbrücker Zeitung, 29.7.1928

Mit den Kauf- und Warenhäusern wurden viele Produkte wesentlich günstiger. Wenn neue Waren kamen oder auch zu bestimmten Anlässen, gab es Sonderangebote. Werbung 1928 - Saarbrücker Zeitung, 29.7.1928

Tatsächlicher und scheinbarer jüdischer Erfolg waren im Alltag der Jahrhundertwende sichtbar, vor allem durch die typischen Familiennamen wie Hanau, Levy, Salomon, Stern oder Weil  – etwa anhand der immer zahlreicher werdenden vor allem von jüdischen Menschen  gegründeten Kaufhäusern und der generell stark gewordenen Präsenz von jüdischen Personen im Bereich von Handel und Gewerbe. Handwerker und Kleinhändler fühlten sich durch die Fabrikproduktion, die Kaufhäuser und die neuen Formen des Handels und des Verkaufens bedroht. Ende des 19. Jahrhunderts hatte auch an der Saar das Handwerk eine gefährliche Konkurrenz in der fabrikmäßig produzierten Ware gesehen. Im frühen 20. Jahrhundert fand dann ein Verdrängungswettbewerb im Handel zwischen den Kauf- und Warenhäusern und dem kleineren Einzelhandel vor Ort und den auf Märkten anbietenden Handlern statt. Unter den NSDAP-Mitgliedern des Saargebietes waren gerade selbständige Handwerker übrigens überdurchschnittlich stark vertreten.  

Nicht alle Besitzer etwa von Kleiderfabriken und Kaufhäusern waren aber jüdisch. Die neue Welt des Warenhauses wurde jedoch auf sie reduziert und mit vermeintlichen Machenschaften des Weltjudentums in Verbindung gebracht. Dabei gab es keinen Unterschied etwa zu Warenhäusern und Geschäften von nicht-jüdischen Kaufleuten. Dem jüdischen Kaufmann wurde aber unterstellt, die ehrliche Arbeit der Handwerksmeister zu entwerten. Juden würden die Waren unter Wert verkaufen. Dabei verdienten sie angeblich prächtig, weil es im Grunde Ramsch, Ware von minderer Qualität sei, die sie letztlich überteuert den anständigen Deutschen andrehten. Diese Erzählung entsprach der Vorstellung vom  gerissenen und geschäftstüchtigen Juden, wie sie der erwähnte Marr verbreitete.

Vereine wie der 1893 gegründete Deutschnationale Handlungsgehilfenverband zählten zu den Multiplikatoren dieser antijüdischen Propaganda. Der Judenhass war eng verbunden mit einer Ablehnung der Moderne, kämpfte der Verband doch auch gegen die Beschäftigung von Frauen im Handel. Gerade der neue Verkaufstyp des Kaufhauses bot nämlich Frauen in der Industriegesellschaft erstmals vergleichsweise attraktive Arbeitsplätze – etwa als Verkäuferin, Kassiererin oder im Büro als Stenotypistin und Buchhalterin.   

Aber nicht nur der erfolgreiche Kaufhausbesitzer stand im Visier antisemitischer Hetze. Die NS-Propaganda verbreitete massenhaft Zerrbilder und Klischees durch Karrikatur, Film und Schrift. Das Bild des raffenden Juden wurde mit dem ewig umherziehenden Juden ergänzt, der als Handelsjude, Krämer, Viehhändler, Warenhausbesitzer oder Weltbankier ein Parasit der Volksgemeinschaft sei. Diese Indoktrination und  Manipulation einer Gesellschaft war gewaltig. Gut 700 Filme wurden in  der NS-Zeit produziert. 400 von ihnen standen im Dienst einer besonderen antisemitischen Propaganda wie etwa „Der ewige Jude“ oder „Jud Süß“. Diese Filme erreichten seinerzeit Millionen von Menschen und verbreiteten antisemitische Hetzbilder und  Stereotype, die leider sogar bis in die Gegenwart wirken.

Tiefere Ursachen – Republikgegner, Monarchisten und Militaristen als Judenhasser

Die Gleichstellung der jüdischen Menschen überschneidet sich zeitlich mit einem zunehmenden Bedeutungsverlust antiparlamentarischer und der Monarchie verbundener Gesellschaftsschichten – dies gilt mit gewissen Unterschieden für viele Länder, insbesondere für Frankreich und etwas später mit dem Untergang des Kaiserreichs 1918 auch für Deutschland. Gerade aus diesen Reihen formierte sich der Antisemitismus im Sinne einer die Juden gesellschaftlich ausgrenzenden Weise, verbunden mit einer angeblichen Stärkung der Nation. 1880/1881 war in einer sogenannten „Antisemiten-Petition“, gerichtet an Reichskanzler Otto von Bismarck, die Reichsregierung aufgefordert worden, den Prozess der Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung (Judenemanzipation) wieder zurückzunehmen. Initiatoren waren der Leipziger Physik- und Astronomieprofessor Karl Friedrich Zöllner und der Offizier und Publizist Max Liebermann von Sonnenberg sowie der Lehrer und Kolonialabenteurer Ernst Henrici. Zu den Erstunterzeichnern zählte auch der Berliner Hofprediger und Protestant Adolf Stoecker, der am Hofe und insbesondere bei der Kaiserin ein gewisses Ansehen genoss. Insgesamt 250.000 Unterschriften wurden eingereicht. Dieser antisemitische Vorstoß scheiterte. Zu den Juden als Feindbild kamen der Liberalismus und die Sozialdemokratie, wie es auch von Heinrich Claß, dem Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, weiter verbreitet wurde.

Der Judenhass war nicht mehr primär religiös, sondern wurde mit der Behauptung der Minderwertigkeit der jüdischen Rasse begründet. Diese Perspektive der Ausgrenzung baute partiell auf Entwicklungen des frühen 19. Jahrhunderts auf, ohne jedoch an diese direkt anzuknüpfen. Infolge der napoleonischen Besetzung, die nicht nur mit der Gewährung von Bürgerrechten, sondern auch mit Leid, Krieg, Zerstörung und Fremdherrschaft  verbunden war, war im 19. Jahrhundert eine deutsche Freiheitsbewegung entstanden. Sie entwickelte im Zeichen der fehlenden staatlichen Einheit ein nationalistisches Denken, das angesichts von Frankreichs Expansionsstreben Franzosenhass predigte. Die Nation sollte vor allem über Ab- und Ausgrenzung definiert werden, teilweise wertete die Freiheitsbewegung auch jüdische Menschen ab und grenzte sie aus. Beispiele dafür sind etwa Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und Clemens von Brentano.

Der im Kontext wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche aufkommende Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts machte die jüdischen Menschen zu Sündenböcken. Dabei baute der Antisemitismus auch auf dem seit dem Spätmittelalter bestehenden Antijudaismus auf. Der Titel der Schrift des Historikers Heinrich von Treitschke „Die Juden sind unser Unglück“ hatte dieser 1879 aus einer Judenschrift Martin Luthers entnommen, der vor allem am Ende seines Lebens deutlich antijudaistisch dachte.

Auch der französische  Antisemitismus benutzte dieses Ausgrenzungsmotiv. Die 1892 erstmals veröffentliche antisemitische Zeitung „La libre parole“ (Das freie Wort) trug den Untertitel „La France aux Français“ (Frankreich den Franzosen), jüdische Menschen  gehörten nicht dazu.

Juden zwischen Assimilation und Zionismus

Am 14. Mai 1904 wurde in Saarbrücken das Reiterstandbild zu Ehren von Kaiser Wilhelm I. auf der Alten Brücke eingeweiht. - Stadtarchiv Saarbrücken, Sammlung Ansichtskarten, Nr. 1303. - Stadtarchiv Saarbrücken, Sammlung Ansichtskarten, Nr. 1303.

Am 14. Mai 1904 wurde in Saarbrücken das Reiterstandbild zu Ehren von Kaiser Wilhelm I. auf der Alten Brücke eingeweiht. - Stadtarchiv Saarbrücken, Sammlung Ansichtskarten, Nr. 1303. - Stadtarchiv Saarbrücken, Sammlung Ansichtskarten, Nr. 1303.

Am 14. Mai 1904 wurde in Saarbrücken das Reiterstandbild zu Ehren von Kaiser Wilhelm I. auf der Alten Brücke eingeweiht. - Stadtarchiv Saarbrücken, Sammlung Ansichtskarten, Nr. 1303. - Stadtarchiv Saarbrücken, Sammlung Ansichtskarten, Nr. 1303.

Viele jüdische Menschen hatten sich gesellschaftlich angepasst. Diese Anpassung konnte sogar so weit gehen, die jüdische Konfession aufzugeben oder etwa im Falle einer Ehe eine christliche Konfession anzunehmen und auch die gemeinsamen Kinder christlich zu erziehen.

Aus einer tiefen Enttäuschung trotz Assimilation erneut ausgegrenzt und gehasst zu werden, erlebte die Idee eines eigenen jüdischen Staates und einer jüdischen Nation Zulauf. Dieser sogenannte Zionismus ist in Deutschland besonders mit dem Journalisten Theodor Herzl verbunden, aber auch mit Leo Pinsker. Maßgeblich für Herzl, der anfänglich deutschnational eingestellt und assimiliert war, sein Ausschluss aus einer Burschenschaft. Seit den 1880er Jahren hatte sich in Reihen der Studentenschaft antisemitisches Denken ausgebreitet.

Im Vergleich zu Katholiken und Protestanten besuchten viele Juden und auch Jüdinnen Universitäten. Sie wurden immer mehr als unliebsame Konkurrenz wahrgenommen, denn aus Söhnen und Töchtern von jüdischen Viehhändlern wurden Rechtsanwälte sowie Ärzte und Ärztinnen. Für die Zionisten war der Weg der Anpassung, der mit Verzicht und Aufgabe jüdischer Traditionen verbunden war, gescheitert. Der im ausgehenden 19. Jahrhundert wieder wachsende Antisemitismus weckte in ihnen die Überzeugung, dass die Vorstellung über die Assimilation zu einem humanen Miteinander zu kommen, sich nicht erfüllte.

Die Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg bestätigten sie in ihrer Einschätzung, auszuwandern und einen eigenen Staat aufzubauen. Dagegen warben die assimilierten Juden für ein Verbleiben. Sie identifizierten sich mit Deutschland, wollten für ihre Rechte kämpfen und sich nicht entwurzeln lassen.