Jüdische Arbeiter und Angestellte

Autor: Hans-Christian Herrmann

Die jüdische Gesellschaft in Saarbrücken (1870-1935)

Auf den ersten Blick bestimmten für die Zeit von 1870 bis 1935 jüdische Geschäfte und Kaufleute das Bild der jüdischen Gesellschaft in Saarbrücken. Juden waren aber nicht nur Geschäftsleute und teilweise gut verdienende Ärzte und Rechtsanwälte, sondern die meisten gehörten zur Mittelschicht und waren abhängig beschäftigt im Bereich von Handel und Gewerbe tätig, z. B. als Buchhalter, Einkäufer, Sekretärin, Schneider und Schneiderin, Verkäuferin oder Dekorateur. Für Deutschland insgesamt galt dies für etwa 60 Prozent der jüdischen Bevölkerung. Dem gegenüber arbeiteten nur 20 Prozent der Gesamtbevölkerung in diesem Sektor. Es handelt sich dabei beispielsweise um Berufe wie Buchhalter, Dekorateur und Verkäufer.

Die Krankenschwester Thekla Kleeblatt, Ehefrau von Rechtsanwalt Eduard Lehmann. - Foto privat. Sammlung Daniel Stiefel.

Die Krankenschwester Thekla Kleeblatt, Ehefrau von Rechtsanwalt Eduard Lehmann. - Foto privat. Sammlung Daniel Stiefel.

Die Krankenschwester Thekla Kleeblatt, Ehefrau von Rechtsanwalt Eduard Lehmann. - Foto privat. Sammlung Daniel Stiefel.

Mittelstand und Angestellte im Bereich von Handel und Gewerbe

Dieser jüdische Bevölkerungsanteil bildete als Angestellte im Bereich von Handel und Gewerbe den jüdischen Mittelstand. Er prägte die jüdische Gesellschaft in Saarbrücken. Eine Tätigkeit als Bergmann oder Hüttenarbeiter gab es dagegen nur vereinzelt.
Damit unterschied  sich die jüdische Bevölkerung deutlich von der Mehrheitsgesellschaft, im von Gruben und Hütten dominierten Saargebiet noch stärker als in der Weimarer Republik. Mit diesem hohen Anteil von Angestellten im Bereich von Handel und Gewerbe war wahrscheinlich im Saargebiet der Anteil berufstätiger jüdischer Frauen deutlich höher als im Bevölkerungsdurchschnitt.
 

Nicht zu vergessen – Arme Juden und Juden aus Osteuropa

Wohl ein knappes Drittel der jüdischen Bevölkerung lebte unter ungünstigeren Verhältnissen, einige in bitterer Armut. Nicht alle Juden waren als Ärztinnen und Ärzte, Rechtsanwalt und in Handel und Gewerbe erfolgreich oder konnten als Angestellte im Handel ihre Existenz sichern.  Gut ein Drittel der Jüdinnen und Juden waren arm. Sie versuchten Waren im Versandhandel abzusetzen. Auch der Handel mit Vieh, Wein und Hopfen ist zu berücksichtigen, der aber mit auskömmlichen Einnahmen verbunden sein konnte. Auch das traditionell eingeübte Hausieren, also das Verkaufen von Haus zu Haus  als Wanderhändler war noch verbreitet. Insbesondere in kleinen Dörfern mit fehlendem oder schwachem Einzelhandel  konnten sie ihre Waren verkaufen. Die NS-Propaganda nahm auch diese armen Juden ins Visier ihrer Hetze.

Dieses Leben betraf insbesondere die vor den Pogromen in Osteuropa geflohenen jüdischen Menschen. Sie waren teilweise in früheren deutschen Gebieten geboren worden, die nach dem Versailler Vertrag aber nicht mehr deutsch waren. Sie flohen vor den Pogromen in diesen Ländern und waren im unter Völkerbundverwaltung stehenden Saargebiet wie im Deutschen Reich Ausländer. Auch unter den osteuropäischen Juden gab es Angehörige der Mittelschicht, ebenso eine Reihe erfolgreicher Ärzte und Kaufleute.

Vor allem in St. Johann im Umfeld der Bahnhof- und Kaiserstraße wohnte jüdischer Mittelstand. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Fritz Mittelstaedt, Nr. 17/35

Vor allem in St. Johann im Umfeld der Bahnhof- und Kaiserstraße wohnte jüdischer Mittelstand. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Fritz Mittelstaedt, Nr. 17/35

Vor allem in St. Johann im Umfeld der Bahnhof- und Kaiserstraße wohnte jüdischer Mittelstand. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Fritz Mittelstaedt, Nr. 17/35

Viele der osteuropäischen Jüdinnen und Juden kämpften aber um ihre Existenz und bestritten mit Mühe ihren Lebensunterhalt als  Vertreter und Kleinhändler, oft mit dem Besuch von Haus zu Haus verbunden. Das Leben als „Reisender“ und „Hausierer“ blieb nicht auf osteuropäische Juden begrenzt. Das bedeutete mit einem Handkarren oder Koffer über die Dörfer zu ziehen und Geschirr, Spielzeug, Uhren oder Kleidungsstücke an der Haustür zu verkaufen. Die dörfliche Bevölkerung sah in ihnen Fremde, denen häufig grundsätzlich misstraut wurde. Dabei brachten „Reisende“ und „Hausierer“ Waren ins Dorf. Teile der armen Landbevölkerung wurde die Ware per Ratenkauf oder Kredit angeboten, was auch zu Konflikten führte.

Diese  ärmeren jüdischen Menschen lebten vor allem in Malstatt-Burbach, während die in Handel und Gewerbe arbeitenden in den attraktiveren Stadtteilen Alt-Saarbrücken und St. Johann eine Wohnung mieten konnten.

Erste Auswertungen der Saarbrücker Meldekartei lassen vermuten, dass es im Saarbrücken der 1920er Jahre über die Jahre mindestens 300 ostjüdische Haushalte gab. Die Meldekarten zeigen häufige Wohnortwechsel innerhalb der Stadt, in zehn Jahren häufig mehr als fünf Mal. Die Interpretation dieser  Wechsel ist schwierig, da auch bei der sogenannten arischen Bevölkerung eine solche erkennbar ist und unterstellt werden darf, dass Wohnortwechsel seinerzeit wohl häufiger waren als heute.

Angaben in der Meldekartei wie „Bülowstraße 30 bei Schmidt“ oder „Riegelsbergerstraße 54 bei Eisenbahnarbeiter Becker“ deuten an, es war ein ärmliches Leben als Untermieter wie bei Abraham Birnbaum. Er war ein „Reisender der Textilbranche“ wie es in der Meldekartei heißt,  geboren am 20. Mai 1906 in Radomysl.  Erstmals am 26. Juni 1930 in Saarbrücken gemeldet, wohnte er zwischen 1932 und 1935  in Forbach und Straßburg, ab 4. Juni 1934 wieder in Saarbrücken-Burbach, „Fennerstraße 60 bei Zucker.“

Zumindest Teile der ostjüdischen Bevölkerung wurden in Saarbrücken nicht heimisch. Aufenthalte von 14 Tagen oder nur von ein paar Monaten bis zu ein paar Jahren fallen auf und deuten darauf hin.

Gerade die osteuropäischen Jüdinnen und Juden stellen die größte Opfergruppe unter den Holocaust-Opfern dar. Die Brutalität des Holocaust zeigt exemplarisch der Leidensweg von Isaak Deresiewiecz und seiner Ehefrau Miriam Deresiewiecz, geb. Stern, und ihrer Familie, die u. a. in Malstatt in der Alten Lebacher Straße 4 wohnten. Sie hatten zehn Kinder, wovon sieben von den NS-Schergen ermordet wurden, dazu Ehepartner und Kinder, insgesamt 18 Menschen.

Stadtteile und Viertel mit besonders vielen Jüdinnen und Juden?

Nur ganz wenige Juden arbeiteten als Bergmann oder Hüttenarbeiter, die meisten waren angestellt im Bereich von Handel und Gewerbe. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Karl August Schleiden, Nr. 17/35

Nur ganz wenige Juden arbeiteten als Bergmann oder Hüttenarbeiter, die meisten waren angestellt im Bereich von Handel und Gewerbe. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Karl August Schleiden, Nr. 17/35

Nur ganz wenige Juden arbeiteten als Bergmann oder Hüttenarbeiter, die meisten waren angestellt im Bereich von Handel und Gewerbe. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Karl August Schleiden, Nr. 17/35

Zu untersuchen ist noch, ob es Viertel und Straßen gab, in denen überdurchschnittlich viele jüdische Menschen lebten. Erste Stichproben lassen folgendes vermuten. Die besonders gut situierten wohnten wie ebenso zahlreiche vermögende nichtjüdische Familien in den Höhenlagen der Stadt und im Bereich des Staden wie etwa in der Heinestraße. Jüdische Familien hatten nach dem Ersten Weltkrieg hier (in der Heinestraße 7,9, 10 und 20)  Villen erworben oder bauen lassen. Mit Blick auf die Überschaubarkeit der Straße wohnten hier überdurchschnittlich viele jüdische Menschen, ihnen gehörten vier der 26 Häuser.     

Die zahlreichen Angestellten scheinen wohl in Nähe ihres Arbeitsplatzes fußläufig im Bereich Kaiserstraße und Bahnhofstraße gewohnt zu haben wie z. B. in der Karcherstraße. Hier wohnte in fast jedem zweiten Haus mindestens eine jüdische Familie. In der Karcherstraße 11 etwa wohnte der praktische Arzt und Kinderarzt Dr. Max Haymann. Er war Jude ebenso wie der Hauseigentümer, der Fotograf Salomon Gutmann. Er emigrierte 1935 nach Frankreich, wurde aber später verhaftet und über Drancy ins KZ Auschwitz deportiert und dort ermordet. Gutmann war übrigens ein polnischer Jude. In seinem Haus wohnten der Kaufmann Julius Israel mit seiner Frau und Alexander Scholem.

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