Jüdisches Leben in der Saarbrücker Wirtschaft
Mitten im Leben und ihrer Zeit voraus
Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts steht für den Aufstieg von Kohle, Eisen und Stahl. Saarbrücken wurde mit der Burbacher und Halberger Hütte, den angrenzenden Gruben etwa in Von der Heydt und Luisenthal sowie in Jägersfreude und Dudweiler zur Industriestadt.
Die Burbacher Hütte verkaufte weltweit Stahlträger und Eisenbahnschienen. Sie sorgte für massive Zuwanderung aus den ländlichen Gebieten des Saarlandes und dem Hunsrück. Die Halberger Hütte in Brebach produzierte vor allem Rohre und andere Teile für Wasser- und Kanalisationssysteme. Auch ihre Produkte fanden weltweiten Absatz. Dazu gab es renommierte Maschinenbaufirmen, Handel und Gewerbe wuchsen auch im Zuge des wirtschaftlichen Wachstums insbesondere nach 1870. Von gut 28.000 Einwohnern in den drei Saarstädten Saarbrücken, St. Johann und Malstatt-Burbach stieg die Bevölkerung 1890 auf fast 50.000. Das Aufkommen der Einkommenssteuer von Saarbrücken stieg von 1,3 Millionen Mark im Jahr 1909 auf 4,4 Millionen Mark im Jahre 1912. Die Bevölkerungszahl lag deutlich über 100.000.
Im Zuge der industriellen Entwicklung und der Bevölkerungsentwicklung wuchsen auch Handel und Gewerbe, so entwickelte sich Saarbrücken dann auch zum Zentrum des jüdischen Lebens an der Saar mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil.
Die Fabrikproduktion und die neue Art des Verkaufens
Industrialisierung steht aber auch für das Aufkommen neuer Produktionsformen. Anstelle von Handarbeit wurden in Fabriken Güter durch den Einsatz von Maschinen in Massen produziert. Dies verlangte neue Formen des Verkaufs. Es entstanden Kauf- und Warenhäuser sowie Fachgeschäfte. Sie warben für ihre Ware in Tageszeitungen und präsentierten sie in dekorierten Schaufenstern, vor allem ab den 1920er Jahren, eine große Attraktion insbesondere nachts. Die Schaufensterflächen wuchsen im Lauf der Jahre, luden zum Flanieren ein, weckten Konsumwünsche. Dekorateure als Meister der Inszenierung von Waren machten neugierig. Die Preise in der neuen Welt des Verkaufens waren einheitlich bzw. für alle Menschen gleich. Deshalb spricht man auch von einer Demokratisierung des Einkaufens. Gesellschaftlich höher zu stehen brachte keine Bevorzugung beim zu zahlenden Preis. Vor allem waren die arbeitsteilig und industriell hergestellten Textilien, Schuhe, Haushaltswaren und Möbel preislich viel günstiger als handwerklich hergestellte Ware. Damit wurden sie erst für weite Teile der Gesellschaft erschwinglich.
Jüdische Persönlichkeiten als Pioniere der Warenhäuser
Sowohl in Saarbrücken wie im Deutschen Reich insgesamt zeigte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Rückgliederung des Saargebietes an Hitler-Deutschland eine hohe Präsenz jüdischer Kaufleute. Sie waren Pioniere der Warenhäuser in Deutschland. In Saarbrücken waren es Levy, Wronker und Weil, im Deutschen Reichen bauten die Familien Tietz, Salman und Schocken Warenhausketten auf.
Jüdische Kaufhäuser: Mitten im Leben und prägend für das Stadtbild
Warenhäuser veränderten das Stadtbild und prägten es zugleich. Ihre prächtige Architektur schenkte Straßenzügen neuen Glanz, verstärkt durch ihre Zentrumslage, die sie brauchten, um Kunden in Massen erreichen zu können. So wurde auch die Saarbrücker bzw. St. Johanner Bahnhofstraße zur Straße der Kauf- und Warenhäuser. Dort, wo alles zusammenläuft und die Menschen zusammenkommen, entstanden sie im ausgehenden 19. Jahrhundert und veränderten das Gesicht der Städte. Anstelle enger Gassen traten große, breite Straßen. Warenhäuser benötigten Platz und wurden selbst zum Motor der Entwicklung von Einkaufsstraßen – die Bahnhofstraße ist dafür ein Paradebeispiel.
Jüdische Persönlichkeiten führend im Textilhandel und anderen Branchen wie Lederwaren, Spielzeug und Eisenwaren
Zwischen 30 bis 40 Prozent der Textilfachgeschäfte und fast alle Saarbrücker Kaufhäuser wurden von jüdischen Persönlichkeiten geführt oder waren von jüdischen Familien gegründet worden. Der jüdische Bevölkerungsanteil betrug 1930 landesweit 0,5 Prozent, in der Stadt Saarbrücken lag er mit 1,5 Prozent am höchsten. Die Namen Wronker, Weil und Levy stehen für diese Geschichte. Ebenso das Passage-Kaufhaus als Riesenkaufhaus, größtes Kaufhaus des ganzen Saargebietes, eröffnet am 8. Dezember 1920.
Zudem gab es zahlreiche jüdische Textilfabriken, der einzige industrielle Bereich, in dem Juden stark vertreten waren. Vergleichsweise hoch war auch ihr Anteil im Bereich des Leder- und Schuhhandels. Von acht Saarbrücker Schuhgeschäften im Jahr 1914 waren fünf jüdisch geführt.
Deutlich weniger aber gleichwohl präsent waren Juden im Spielzeughandel sowie in der Nahrungs- und Genussmittelbranche. Auch der Eisenwaren- und Schrotthandel gehörte zu den Branchen mit vergleichsweise hohem jüdischem Anteil, dies galt auch für Saarbrücken.
Eine Rolle spielten Juden auch in dem in den 1920er Jahren wachsenden Autohandel. Die Fahrrad- und Maschinenindustrie AG in Saarbrücken war der größte Autohändler des Saargebietes, Inhaber war Felix Hanau, der aus einer jüdischen Familie aus Saarlouis stammte.
Dieser hohe Anteil jüdischer Geschäfte war im Alltag für die Bevölkerung sichtbar. Die typisch jüdischen Namen verrieten sozusagen die Zugehörigkeit der Eigentümer. Die Namen der Ladeninhaber schmückten die Fassaden und die ab den 1920er Jahren umfangreich geschaltete Zeitungswerbung der Kaufhäuser und Fachgeschäfte festigte dieses Bild.
Der hohe Anteil von jüdischen Menschen in Handel und Gewerbe erklärt sich aus ihrer Verfolgungsgeschichte. Über Jahrhunderte waren sie in der Zeit der Ausgrenzung auf sich allein gestellt. Die Zeit der Judenemanzipation und der Industrialisierung fielen zusammen und viele Jüdinnen und Juden nutzten die neuen sich ihnen bietenden Möglichkeiten.
Juden als Modernisierungsgewinner?
Noch Anfang des 19. Jahrhunderts bestritten 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung ihr Leben als Hausierer oder Wanderhändler, meist ein Leben in großer Armut. Ende des 19. Jahrhunderts waren es nur noch 8 Prozent.
Das 19. Jahrhundert steht neben der Industrialisierung für die Judenemanzipation. Die jüdische Bevölkerung wird rechtlich gleichgestellt, hat freie Berufswahl und Zugang zu Schulen und Universitäten. Jüdische Menschen ergreifen diese Chancen, eröffnen Läden und Geschäfte, erkennen Innovationen und nutzen sie. Einige der früheren Kleinhändler und Hausierer stiegen mit einem eigenen Geschäft gesellschaftlich auf. Trotzdem lebten viele jüdische Menschen im Bereich des Existenzminimums, betrieben einen Versandhandel oder zogen mit einem Koffer von Waren von Haus zu Haus. Die Ladenbesitzer hingegen erschienen weiten Teilen der Gesellschaft als Gewinner der Modernisierungs- und Veränderungsprozesse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Insbesondere die zahlreichen Kaufhäuser und Einzelhandelsgeschäfte strahlten diesen Erfolg aus, denn trotz der Inflation 1922/1923 wuchsen sie, indem sie um- oder neu und noch größer als bisher bauten. Sie weckten Neid und bereits der kurz nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs aufkommende wirtschaftlich motivierte Judenhass nahm die jüdischen Kaufhäuser ins Visier. Die meisten Jüdinnen und Juden waren dabei nicht selbständig in Handel und Gewerbe tätig, sondern angestellt, meist etwa als Buchhalter, Einkäufer, Verkäuferin oder Dekorateur. Insbesondere Frauen boten Kaufhäuser und Fachgeschäfte attraktive Arbeitsplätze und erleichterten ihnen die Berufstätigkeit.
Saarbrücken entwickelte sich zum Mittelpunkt von Handel und Gewerbe. Die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte sollte trotz der wechselvollen wirtschaftlichen Entwicklung mit Inflation und Arbeitslosigkeit deutlich wachsen. Die Warenhäuser und Fachgeschäfte schmückten die Straßen. Saarbrücken zählte 1912 immerhin 734 Einzelhandelsgeschäfte, Mitte der 1930er Jahre waren es mehr als doppelt so viele.
Damit veränderte sich auch die Saarbrücker Stadtgesellschaft. Bis zum späten 19. Jahrhundert bildeten alteingesessene Saarbrücker und St. Johanner Familien die städtische Elite. Familien wie Bruch, Karcher und Schlachter, die schon vor 1648 an der Saar lebten oder Vopelius, Röchling, Haldy und Korn, die danach kamen und über eine strategische Heiratspolitik ihr Vermögen und ihren Einfluss über einen langen Zeitraum vermehrt hatten und, um es in der Sprache von heute zu formulieren, Netzwerke aufbauten. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg dürfte der Aufstieg von jüdischen Menschen im Saarbrücker Handel und Gewerbe immer sichtbarer geworden sein. Politisch und gesellschaftlich hatte sich für das Großbürgertum mit dem Verlust von Privilegien etwa durch die Einführung des gleichen Wahlrechts nach dem Ersten Weltkrieg viel geändert. 1909 noch zu Zeiten des Zensuswahlrechts konnten nur etwa 14 Prozent der Bevölkerung wählen, 1920 gab es dann die ersten Kommunalwahlen nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht. Die Steuerkraft eines Bürgers bzw. sein Vermögen zählte nicht mehr, seine Stimme war gleich mit allen anderen Stimmberechtigten. Auch Frauen konnten wählen und waren wählbar.
Kaufhäuser als Projektionsfläche für Modernisierungsängste
Bereits ab den 1870er Jahren kamen Stimmen auf, die gerade ein paar Jahre zuvor vollzogene Judengleichstellung wieder zurückzunehmen. Diejenigen, die sich als Verlierer dieser Entwicklung fühlten, unterstützten entsprechende Forderungen. Dazu zählten kleinere Handwerker und Handelsgehilfen. Sie folgten einer Propaganda, die pauschal Juden die Schuld für alle Krisen gab. Und davon gab es nach 1914 viele, die Kriegsniederlage und der Versailler Vertrag, Inflation, Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit.
Vor allem die jüdischen Kaufhäuser wurden früh Zielscheibe antisemitischer Hetze. Dies beginnt bereits Ende des 19. Jahrhunderts und zieht sich bis zur „Machtergreifung“ Hitlers und dem kurze Zeit später im April 1933 ausgerufenen Boykott jüdischer Geschäfte.
Das NSDAP-Parteiprogramm von 1930 forderte die „Kommunalisierung“ der Großwarenhäuser und damit ihre Enteignung, die Verkaufsflächen sollten an lokale Kleinhändler und Kleingewerbe günstig vermietet werden.
Die Nationalsozialisten sprachen damit die Ängste von Handwerkern und des unteren Mittelstandes vor wirtschaftlichen Verlusten an. Diese waren natürlich massiv gewachsen im Zuge der wirtschaftlichen „Achterbahn“ der 1920er Jahre mit zwei nie gekannten Inflationswellen, die gerade den Mittelstand um sein Vermögen gebracht hatte.
Warenhäuser und damit vor allem jüdische Kaufleute wurden von der antisemitischen Propaganda als Vernichter des Mittelstandes dämonisiert, als Kapitalisten und als „Wüstlinge“ einer moralisch minderwertige Rasse beschimpft, die ihre Machtstellung ausnutze, um arisches Personal, insbesondere junge Frauen, sexuell zu nötigen und zu missbrauchen. Bezeichnend auch Hermann Görings Rede im Berliner Sportpalast 1930: „In leeren Geschäften stirbt ein verarmter Mittelstand, aber in den Hauptstraßen schießen die Trutzburgen des Kapitals, die Warenhäuser, hoch.“
Diese Ängste und diese Propaganda blieb auch im Saargebiet wohl nicht ohne Wirkung: Das Handwerk des Saargebietes zählte zu den Berufsgruppen, die 1929 am stärksten in der NSDAP vertreten waren. Ein Drittel der NSDAP-Mitglieder an der Saar entfiel auf selbständige Handwerker. Bezogen auf den Anteil der hauptberuflich erwerbstätigen Bevölkerung war das Handwerk damit achteinhalbmal stärker vertreten.