Textilien
Die Branche mit der stärksten jüdischen Präsenz bildete generell der Textil-Groß- und Einzelhandel. Dies gilt auch für Saarbrücken. Früh war die Textilherstellung von der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts erfasst worden. Sie ermöglichte, dass Stoffe wie vor allem Leinen und Baumwolle in viel größeren Mengen zur Verfügung standen. Neue chemische Färbungsverfahren und Nähmaschinen erleichterten ihre Verarbeitung und ermöglichten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die industrielle Fertigung von Kleidungsstücken bzw. die Herstellung von Konfektionsware. Später kamen der Textildruck und die Chemiefasern hinzu.
In Massen wurden nun Hosen, Hemden, Kleider und andere Textilien vorfabriziert. Industriell gefertigte Textilien waren viel billiger als beim Schneider in Auftrag gegebene und nach Maß gefertigte Ware. Abgesetzt wurde sie über die neue Art des Verkaufens in Kaufhäusern und Textilfachgeschäften. In dekorierten Schaufenstern wurde die Ware präsentiert. Die Kunden konnten die Ware anfassen und anprobieren und zu einem Festpreis kaufen. Die Preise waren nicht verhandelbar, sondern für alle gleich. Wenn neue Ware und sozusagen eine neue Mode kam, gab es reduzierte Preise bzw. Sonderangebote. In der Regel musste die Konfektionsware den individuellen Köpermaßen angepasst werden, dazu beschäftigten die Kaufhäuser und Textilfachgeschäfte Schneiderinnen und Schneider. Sie komplettierten auch vorgefertigte Stoffe zu Kleidern, indem sie etwa Stickereien, Perlen und Pailletten anbrachten.
Starke jüdische Präsenz in der Textilbranche
Der jüdische Anteil in der deutschen Textilbranche lag in den 1920er Jahren bei bis zu 40 Prozent. Die Verhältnisse im Saargebiet entsprachen dem. Besonders viele dieser Geschäfte gab es in der Saarbrücker Bahnhofstraße. Sie war zusammen mit den zahlreichen jüdischen Kauf- und Warenhäusern und anderen Fachgeschäften sozusagen auch ein Schaufenster jüdischen Lebens.
Dieser hohe jüdische Anteil erklärt sich aus den Zeiten der Judendiskriminierung und Ausgrenzung. Vielen jüdischen Menschen blieb zum Überleben nur die Möglichkeit, wandernd umher zu ziehen und alte Kleider und Kurzwaren zu verkaufen. Im Zuge der Judenemanzipation eröffneten sie dann vor Ort einen kleinen Laden und betrieben diesen Handel nun ansässig. Diese Nähe zum Textilhandel und ihre durch die Ausgrenzung zu erklärende vor allem selbständige berufliche Existenz begünstigte ihr Engagement im Textilhandel und der Textilherstellung. Die Innovationen der Industriellen Revolution erkannten sie früh und setzten sie unternehmerisch um. Es sind Juden wie etwa Hermann Gerson in Berlin, der schon ab 1841 mit Konfektionskleidung handelte und diese selbst produzierte. In Prößnitz (Mähren) soll um 1860 Isaak Mandel die erste Fabrik für Konfektionskleidung in Europa aufgebaut haben.
Die Bahnhofstraße - auch ein Schaufenster jüdischen Lebens
Zu den jüdischen Textilgeschäften in der Bahnhofstraße zählten u. a.: Großhandlung für Kurz- und Wollwaren Richard Heymann in Nr. 15, Simon & Bloch in Nr. 20, Wollwaren Drucker in Nr. 20 und 47 sowie das Crefelder Seidenhaus/Hermann Herz in Nr. 67.
Die Familie Drucker stammte aus Westpreußen und war wohl 1892 nach Saarbrücken gekommen. Sohn Kurt, 1884 geboren, besuchte das Ludwigsgymnasium, absolvierte eine kaufmännische Lehre in Bonn und war dann Abteilungsleiter in einem Tietz-Kaufhaus in Berlin. 1922 wurde das elterliche Geschäft, u. a. am Rathausplatz 7, später Bahnhofstraße 65, verkauft und Kurt Drucker gründete ein eigenes Textilgeschäft in der Bahnhofstraße.
Bekannt war auch das Unternehmen der Geschwister Wollenberger Damenmode in der Bahnhofstraße 71. Seit 1900 führte es Emanuel Alexander Wollenberger, geboren am 20. Oktober 1874 in Illingen, mit seiner Frau Flora. Es hatte sich zu einem gut gehenden Damenmodegeschäft entwickelt und präsentierte sich mit einer 40 Meter langen Verkaufsfront. 24 Verkäuferinnen arbeiteten dort Ende der 1920er Jahre.
Als größtes Spezialhaus für Damen- und Mädchenkonfektion inserierte das im Oktober 1899 gegründete Geschäft Kaufmann & Süsskind. Es befand sich in der Bahnhofstraße 74. Wie viele Textilkaufhäuser erlebte Benno Süsskinds Geschäft eine Aufwärtsentwicklung und galt als größtes Spezialgeschäft dieser Art in Südwestdeutschland und Elsass-Lothringen. Im Jahr 1923 arbeiteten dort 70 Angestellte, vor allem Frauen.
Zu den renommierten Saarbrücker Textilkaufhäusern zählte Bamberger & Hertz in der Bahnhofstraße 36. Dieses Geschäft ging auf die aus Worms stammende Familie Bamberger zurück. Die Bambergers betrieben dort seit 1876 ein Konfektionsgeschäft, das nach Heirat zu Bamberger & Hertz erweitert wurde. Von Worms aus wurde auch in Saarbrücken ein Textilkaufhaus aufgebaut, das wohl 1901 in der Bahnhofstraße gegründete sogenannte „Welthaus“. Die fünf Söhne des Firmengründers eröffneten ab 1912 weitere Kaufhäuser in den Metropolen München, Stuttgart, Frankfurt/Main, Köln und Leipzig. Leipzig wurde 1927 zum Hauptsitz des Unternehmens Bamberger & Hertz.
Leopold Oppenheimer, der 1901 die Tochter des Gründers, Helene Bamberger, geheiratet hatte, baute das Saarbrücker „Bamberger & Hertz“ auf. Aus dieser Ehe ging Max Oppenheimer hervor, der als „Max Ophüls“ Filmgeschichte schreiben sollte.
Oppenheimer hatte sich von der jüdischen Religion distanziert und war Anhänger von Max Braun, dem Vorsitzenden der saarländischen Sozialdemokratie. Die Geschäfte liefen bis Anfang der 1930er Jahre sehr gut, neben dem Haus in der Försterstraße 43 erwarb Oppenheimer ein Anwesen mit Park auf dem Scheidter Berg, das sogar über einen Swimming-Pool verfügte.
Auf Herrenmode war Benoît Adler in der Bahnhofstraße 86 spezialisiert. Adler, geboren am 31. März 1871 in Aschaffenburg, kam 1898 nach Saarbrücken (Stadtteil St. Johann) und konnte mit seinem Geschäft viele Stammkunden gewinnen.
Bekannt war auch das „Haus der Stoffe Salomon“ in der Bahnhofstraße 72. Im Lauf der Jahre wechselten die Bezeichnungen. Neben „Salomons Stoffhaus“ gab es auch den Namen „Salomons Stoffetage“. Es ist eines der wenigen jüdischen Geschäfte, das nach dem Holocaust wieder eröffnet und bis zum Oktober 1959 geführt wurde. Der Handel mit Stoffen erfreute sich auch nach Aufkommen der Konfektionsware immer noch reger Nachfrage, da die Frauen in den ärmeren Haushalten die Kleidung von Mann und Kindern häufig selbst schneiderten, um so Geld zu sparen.
Jüdische Textilgeschäfte in der ganzen Stadt Saarbrücken
Jüdische Textilgeschäfte waren nicht nur in der Bahnhofstraße zu Hause. Sie verteilten sich über ganz Saarbrücken: So etwa die Großhandlung in Kurz-, Weiß- und Wollwaren von Cahn & Merten in der Trierer Straße 36/38 mit einer Filiale in der Saarstraße 58 in Trier. Ferner die 1878 in Merzig gegründete Firma Baum & Cahn Manufacturwaren. Sie spezialisierte sich auf den Großhandel mit Stoffen. 1921 zog Baum & Cahn von Merzig nach Saarbrücken in die Kaiserstraße 35 um. Ein weiteres Geschäft eröffnete die Firma in der Kaiserstraße 39 im fast 200 km entfernten Frankfurt/Main, sogar in Berlin wurde eine Vertretung eingerichtet. Geführt wurde das Unternehmen von Leo Cahn und Moritz Schwarz.
Weitere Textilgeschäfte waren das von Heinrich Schwarz in der Saarbrücker Kaiserstraße 24, das der Familie Stern in der Goethestraße 1 und das von Jacob Rosenblum in der Mainzer Straße 103. Zudem gab es eine Reihe von Textil-Großhändlern wie etwa Steinfels & Kahn in der Kaiserstraße 35. Ferner eine Vielzahl kleinerer jüdischer Geschäfte, die Krawatten und Accessoires verkauften.