Emigration

Als Emigrant nach 1945 verachtet

Autor: Hans-Christian Herrmann

Da das Saarland erst 1935 zu Hitler-Deutschland kam, wählten vergleichsweise viele Jüdinnen und Juden schon Anfang der 1930er Jahre den Weg in die Emigration. Ein weiterer Emigrationsschub setzte mit Hitlers Machtergreifung ein. Die Nachrichten über Boykott und Gewalt gegen Juden aus dem Reich erreichten auch das Saargebiet und auch hier häuften sich antisemitische Vorfälle. Aus dem Reich flohen vor allem Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden ins Saargebiet. Massenweise flohen Sozialdemokraten, Kommunisten sowie viele jüdische Menschen bis 1935 ins Saargebiet, darunter mit Blick auf die Nähe viele Mannheimer Sozialdemokraten und Juden wie etwa der Führer der Mannheimer SPD-Stadtratsfraktion Franz Hirschler, ein jüdischer Rechtsanwalt. Paris und Prag waren weitere Zufluchtsorte.

Das Römische Abkommen versuchte die Auswanderung für saarländische Juden zu erleichtern. Insbesondere kurz vor und nach dem 13. Januar 1935 (Tag der Saarabstimmung) verließen viele Juden ihre Saarheimat, weil sie um ihr Leben fürchten mussten. Eine genaue Zahl von Emigranten kann nicht benannt werden. Zwischen dem 1. Januar und 25. Juni 1935 ging die Bevölkerung des Saargebietes jedoch um 26.995 Einwohner zurück, darunter nicht nur Emigranten, sondern auch weggezogene französische Familien (z. B. Grubenbeamte), die in  über 450 Wohnungen im Saargebiet lebten. Wahrscheinlich bewegte sich allein die Zahl der nach Frankreich geflohenen Männer, Frauen, Greise und Kinder um die 12.000 Personen. Darunter Juden und politisch Verfolgte. Zwischen dem 1. Januar 1936 und 25. Mai 1936  emigrierten dann nochmals 1062 saarländische Juden.

In einer günstigeren Situation waren Jüdinnen und Juden, die im Saargebiet lebten, aber ausländische Staatsbürger waren.  Zu ihnen zählte etwa die Familie von Leon Bloch, Schweizer Staatsbürger, von 1923 bis 1935 Oberkantor der Synagogengemeinde in Saarbrücken. Er emigrierte 1935 mit der Familie in die Schweiz, seine Tochter Alice hatte 1934 ihre Ausbildung als Goldschmiedin abgeschlossen.

Die Schweiz war generell auch ein für verfolgte jüdische Menschen Hoffnung versprechendes Land, das jedoch auch aus Angst vor Hitler-Deutschland sich eher restriktiv verhielt. So gelang es nicht eine in Zweibrücken lebende Tante von Alice mit in die Schweiz zu holen.  Der Ablehnung der Eidgenossen erschwerte ihr den Nazis zu entkommen, sie wurde im KZ Auschwitz ermordet. Es gibt viele vergleichbare Fälle.

Vorrangige Zufluchtsländer

Anzeige über den Eigentümerwechsel des früheren jüdischen Geschäfts Japhet, 1935. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Karl August Schleiden.

Anzeige über den Eigentümerwechsel des früheren jüdischen Geschäfts Japhet, 1935. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Karl August Schleiden.

Anzeige über den Eigentümerwechsel des früheren jüdischen Geschäfts Japhet, 1935. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Karl August Schleiden.

Vorrangige Zufluchtsländer saarländischer Juden waren Frankreich, Luxemburg, die Schweiz und Palästina, aber auch die USA und Länder Südamerikas. Vor allem Frankreich war für viele Jüdinnen und Juden ein vielversprechendes Land. Es war im Frühmittelalter das jüdische Zentrum in Europa. In Erinnerung war auch Frankreich als erstes Land Europas, das mit der Französischen Revolution Juden die Gleichberechtigung gewährt hatte. Mit Leon Blum sollte Frankreich 1936 einen jüdischen Premierminister erhalten, der allerdings nur kurz im Amt bleiben sollte.

Nach Südamerika wanderte beispielsweise die 1923 in Homburg geborene Edith Aron zusammen mit ihrer Mutter aus. Sie sollte später eine bedeutende Übersetzerin werden.

Einige der jüdischen Rechtsanwälte, Kauf- und Geschäftsleute aus der Saarbrücker Bahnhofstraße fanden über Frankreich in den USA und hier vor allem in New York ein neues und sicheres Zuhause wie etwa der Rechtsanwalt Siegfried Wertheimer, der Kaufmann Benno Süßkind oder der Kaufmann Siegfried Jonas. Auch viele Ärzte emigrierten in die USA.

Frankreich und Luxemburg lagen direkt an der Grenze des Saargebietes und waren deshalb Hauptemigrationsländer. Von rund 8.000 Emigranten suchten 2.597 in Luxemburg Asyl, darunter 651 Juden. Luxemburg fungierte schon in den 1920er Jahren als Zuwanderungsland, was bereits zu ersten Restriktionen geführt hatte.

Mit Blick auf den Flüchtlingsstrom im Kontext der NS-Herrschaft herrschte in der luxemburgischen Öffentlichkeit eine antisemitische Stimmung vor. Nach 1938 verweigerte das Großherzogtum die Aufnahme von Flüchtlingen. Gleichwohl versuchten die großherzogliche Familie und die Regierung zu helfen, etwa mit der Ausgabe kostenloser Medikamente oder sehr geringen Gebühren für Emigranten, die medizinische Hilfe in Anspruch nahmen. Dennoch ereigneten sich menschliche Tragödien. Abgewiesene Emigranten, meist Personen, die kein Vermögen mitbrachten und keine Arbeit nachweisen konnten, versuchten über den Fluss Sauer nach Luxemburg zu flüchten und ertranken dabei.

Eine Vielzahl Verfolgter aus dem katholischen Milieu fand zunächst in Luxemburg Schutz wie etwa der Katholik und spätere saarländische Ministerpräsident Johannes Hoffmann, die christlichen Gewerkschaftler Fritz Kuhnen und Heinrich Imbusch, aber auch Sozialdemokraten wie der Kölner Wilhelm Sollmann, Mitglied des SPD-Vorstandes, der Vorsitzende der SPD des Saargebietes Max Braun und der Saar-Gewerkschafter Fritz Dobisch. Luxemburg war somit für viele Emigranten erste Station.

Durch Hitlers Weltkrieg sollten Frankreich und Luxemburg ab 1940 teilweise oder ganz besetzt werden und mit Hitler-Deutschland kollaborieren, so dass viele Emigranten sich eine neue Zuflucht suchen mussten. Nach der Reichspogromnacht im November 1938 wurde es immer schwieriger zu emigrieren.

Der Mediziner Dr. Ludwig Wolff erhielt 1939 im Alter von 52 Jahren noch die Chance, nach Shanghai zu fliehen. Wolff betrieb in Saarlouis – damals eingedeutscht Saarlautern - eine gut gehende Arztpraxis. Er war trotz des Boykotts gegen jüdische Ärzte, anderer Hetzaktionen und Ausgrenzungsmaßnahmen in Saarlouis geblieben. Am 1. Oktober 1938 wurde ihm dann die Approbation entzogen, in der Reichspogromnacht wurde er verhaftet und ins KZ Dachau deportiert. Angeblich durch die Vermittlung des Industriellen Dr. August Oetker, mit dem ihn seit dem Studium eine Freundschaft verbunden haben soll, soll Wolff die Emigration ermöglicht worden sein.

Emigration – Statusverlust, angefeindet und wieder verfolgt

Emigration bedeutete für die Betroffenen, sich in einem fremden Land mit fremder Sprache behaupten zu müssen, und das in einer Zeit mit wirtschaftlichen Problemen in den meisten Aufnahmeländern. Das Leben in der Emigration zehrte Ersparnisse auf. Wer noch Vermögen besaß, konnte sich zweifellos besser schützen. Der Saarbrücker Apotheker Falck hatte in der Bahnhofstraße 81 sehr großzügig über drei Etagen gewohnt und Dienstpersonal beschäftigt. Im Januar 1935 musste er das Saargebiet verlassen, lebte bis 1938 in Strasbourg, ging von dort nach Nizza und fand in Plascassier/Grasse im Departement Alpes-Maritime schließlich ein kleines Obstgut, das er als Bauer bewirtschaftete.

In der Emigration bekamen Juden und andere Verfolgte Fremdenfeindlichkeit zu spüren. Sie galten in erster Linie nicht als verfolgte Juden, sondern als Deutsche und sogar als Nazis. Solch groteske Erfahrungen zehrten an der Persönlichkeit. So wurden von den Nazis verfolgte Juden in Frankreich als „boche“ beschimpft und zugleich schlug ihnen auch dort Antisemitismus entgegen.

Die jüdische Frauenärztin Wally Steinthal durfte ihren Beruf in Frankreich nicht ausüben und ihre Tochter wurde in der Schule als „boche“ beschimpft und gedemütigt. Steinthal zerbrach an den Schikanen der französischen Behörden und wählte beim Einmarsch der Wehrmacht in Paris den Freitod. Das völlig widersinnige Schicksal, im Emigrationsland den Beruf nicht ausüben zu dürfen, traf auch andere jüdische Ärzte und Ärztinnen wie etwa die Berlinerin Rahel Hirsch. Sie war eine anerkannte medizinische Kapazität und hatte 1913 als dritte Frau in Deutschland eine medizinische Professur erhalten.

Aufnahmeländer fürchteten nationalsozialistisches Deutschland und wollten Provokationen vermeiden

Diese Erfahrungen erklären sich aus einem in den Emigrationsländern bestehenden Antisemitismus, der allerdings nicht mit dem Antisemitismus der Nationalsozialisten gleichzusetzen ist. Als Max Ophüls beispielsweise 1933 in Paris ankam, wollte er mit dem Film „Je suis un juif“ ein Zeichen setzen, fand jedoch keine Unterstützung. Das Trauma der Dreyfus-Affäre wirkte in Frankreich nach. Die Aufnahmeländer fürchteten zudem das nationalsozialistische Deutschland und wollten Provokationen vermeiden. Es gelang Ophüls allerdings 1935, französischer Staatsbürger zu werden. Als er vor dem Hintergrund der Besetzung Frankreichs und der Kollaboration der Vichy-Regierung das Land verlassen wollte, suchte er ein Engagement in der Schweiz. Dort beabsichtigte er den KZ-Erlebnisbericht „Die Moorsoldaten“ zu verfilmen, doch niemand zeigte Interesse, dieses Thema anzupacken.

Auch in der Emigration gab es keinen sicheren Schutz, es sei denn, man flüchtete in die USA, nach Südamerika oder generell in ein Land, das nicht von Hitler überfallen wurde. Noch schmerzlicher als Statusverlust und Anfeindungen war es, etwa in Frankreich von den kollaborierenden Vichy-Behörden verhaftet und dann in ein KZ abtransportiert zu werden. So widerfuhr es dem erwähnten Saarbrücker Apotheker Falck, der sich ab November 1942 in einer Hütte in Südfrankreich verkrochen hatte und dann am 24. Juni 1944 entdeckt wurde. Am 30. Juni 1944 wurde er nach Drancy verschleppt und von dort ins KZ Auschwitz deportiert. Dort kam  er am 5. Juli 1944 zu Tode.

Anderen gelang mit viel Glück und Geld die Flucht. Als der Teilhaber des renommierten Saarbrücker Kaufhauses Weil, Dr. Robert Köster, mit seiner Familie das sicher geglaubte Versteck in den französischen Pyrenäen aus Angst vor den ankommenden deutschen Truppen verlassen musste, half ihm eine stattliche Summe amerikanischer Dollars, die er 1939 gegen französische Franken getauscht hatte. Der Besitzer eines Sägewerkes bei Arreau bot ihm an, ihn mit seiner Familie von kundigen Führern nach Spanien bringen zu lassen. Hinter der Grenze könne er dann mit einem dort bereit gestellten Auto weiterfahren. Dafür musste er die stattliche Summe von 4.000 Dollar zahlen.

Die Flucht selbst gelang zwar, die Begleiter ließen ihn jedoch auf halber Strecke im Stich und auch das versprochene Auto gab es nicht. Kurze Zeit später wurden Kösters und seine Frau verhaftet und nach Barbarastro ins Gefängnis gesteckt. Beide wurden voneinander getrennt. Das spanische Gefängnis war gefüllt mit Bürgerkriegskämpfern. Regelmäßig kam es zu Erschießungen, die die Kösters in ihren voneinander getrennten Zellen mit anhören mussten. Über ihr weiteres Schicksal und das des Ehepartners wurden sie im Unklaren gelassen und ihr restliches Geldvermögen konfisziert. Sie überlebten aber den Holocaust.

Emigration macht krank

Solche Straßenszenen waren Anfang der 1930er Jahre keine Seltenheit. Das Umzugsunternehmen kam aus Lothringen und dürfte einen Umzug von Saarbrücken Richtung Metz oder Strasbourg organisiert haben. - Stadtarchiv Saarbrücken, Geschäftsfeld Öffentlichkeitsarbeit, Nr. 283.

Solche Straßenszenen waren Anfang der 1930er Jahre keine Seltenheit. Das Umzugsunternehmen kam aus Lothringen und dürfte einen Umzug von Saarbrücken Richtung Metz oder Strasbourg organisiert haben. - Stadtarchiv Saarbrücken, Geschäftsfeld Öffentlichkeitsarbeit, Nr. 283.

Solche Straßenszenen waren Anfang der 1930er Jahre keine Seltenheit. Das Umzugsunternehmen kam aus Lothringen und dürfte einen Umzug von Saarbrücken Richtung Metz oder Strasbourg organisiert haben. - Stadtarchiv Saarbrücken, Geschäftsfeld Öffentlichkeitsarbeit, Nr. 283.

Die Angst, entdeckt zu werden, begleitete die Männer und Frauen in der Emigration,  wenn die Länder von den Nazis besetzt wurden. Die begründete Angst, auch in der Emigration von der Vernichtungsmaschinerie erfasst zu werden, zehrte an den Nerven der Menschen. Psychosen und Herzerkrankungen waren die Folgen dieser Extremsituation. Ihren ursächlichen Zusammenhang zu beweisen, war für die Betroffenen in den Entschädigungsverfahren nach dem Krieg eine erniedrigende Prozedur.

Nachdem beispielsweise der Inhaber der Elsässischen Brennereigesellschaft Moritz Cahnmann einen Tag vor Weihnachten 1943 in Grenoble von der Gestapo verhaftet und nach Drancy deportiert wurde, starb er kurze Zeit später den Gas-Tod im KZ- Auschwitz. Seine Tochter, die sich in Frankreich erfolgreich bis Kriegsende verstecken konnte, erkrankte in der Folge an einer geheimnisvollen Krankheit. Da sie keine Medikamente bekam, blieb die Krankheit über ein Jahr unbehandelt. So begab sich Cahnmanns Tochter unter falschem Namen in das Spital von Manosque. Die durchgeführte Operation hinterließ Entstellungen an Hals und Rücken – ihre Krankheit galt als nervlich bedingt.

Leo Oppenheimer, der einst vermögende Inhaber des Textilkaufhauses Bamberger & Hertz, und Vater des späteren Regisseurs Max Ophüls, emigrierte 1935 nach Frankreich. Er versteckte sich u. a. in Marseille, wo er in einer kleinen Pension wohnte. Oppenheimer litt an Diabetes und das Leben in Angst verschlimmerte seine Erkrankung so stark, dass sein rechter Fuß amputiert werden musste. Es kam noch schlimmer. Seine Frau verstarb am 10. April 1943, nun lebte er allein in der Pension. Dort erschien am 6. Oktober 1943 die Gestapo.

Von einer Verhaftung sahen die Polizisten mehr oder weniger „gnädig“ ab, stattdessen „konfiszierten“ sie Oppenheimers Ersparnisse. Der Pensionsinhaber protestierte gegen diesen Willkürakt, forderte vergeblich eine Quittung und kam dafür in Haft. Auf Intervention des Schweizer Konsuls wurde er frei gelassen. Oppenheimer lebte nun in einem Kellerversteck in Marseille, unter elenden Verhältnissen und ohne Lebensmittelkarten. Seine Tochter, die sich in Argentinien im Exil aufhielt, fand ihn 1946 völlig verwahrlost in Aix-en-Provence. Die Diabetes-Erkrankung hatte sich weiter verschlimmert, jetzt drohte die Beinamputation. Oppenheimer starb am 3. April 1949.

„Arier“ profitieren von den Emigranten

Juden mussten Eigentum unter Wert verkaufen

„Arische Volksgenossen“ konnten, vorausgesetzt sie verfügten über ein gewisses Kapital, mit Geschick jüdisches Eigentum unter Wert erwerben. Mindestens 69 Saarbrücker Immobilien wurden in den Jahren 1934 und 1935 von Juden verkauft, darunter Geschäftshäuser in der Bahnhofstraße und Häuser in guten Lagen wie Am Staden, der Bismarckstraße, der Lessingstraße, der Feldmannstraße und der Petersbergstraße.

Schon weit vor der Saarabstimmung 1935 entschieden sich jüdische Kaufleute und Ärzte zur Auswanderung. Die Chancen, ihr Vermögen zu verkaufen und einen wenigstens halbwegs realistischen Preis zu erzielen, waren zwar gegeben, aber häufig erfüllten sie sich nicht. Je näher der 13. Januar 1935, der Tag der Saarabstimmung, rückte, und insbesondere danach, umso größer wurden die Verluste. Einerseits waren jüdische Verkäufer froh, überhaupt einen solventen Käufer zu finden, andererseits verfiel der Marktwert im Zeichen der drohenden Verfolgung und Entrechtung. Jeder Tag, der verging, verringerte den Preis.

Als Emigrant nach 1945 verachtet

Angesichts dieser Verhältnisse muss es für die Überlebenden des Holocaust und der NS-Diktatur, die ins Ausland geflohen waren, wie eine weitere nachträgliche Verhöhnung gewirkt haben, wenn sie nach 1945 als französische Emigranten von den hiergebliebenen Saarländerinnen und Saarländern, unter ihnen zahlreiche Nazis und Mitläufer, damit begrüßt wurden, sie hätten ja wie Gott in Frankreich gelebt.

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