Gründe für die nationalistische Orientierung der Saarländer
Mit Nationalismus in den Ersten Weltkrieg gezogen
Mit nationalistischer Begeisterung waren viele Länder in den Ersten Weltkrieg marschiert. Die dann nie zuvor erlebte Dimension von Tod und Zerstörung hinterließ schwere Traumata bei allen Kriegsteilnehmern.
Dies erklärt in den Gesellschaften der Sieger eine öffentliche Meinung, die auf Bestrafung und Bezahlung der erlittenen Schäden pochte. Ihr Einfluss auf die Politik war groß. So war Frankreichs Industrie enorm zerstört worden. Dies erklärt die harten und aus deutscher Sicht völlig überzogenen Bestimmungen des Versailler Vertrages.
Die öffentliche Meinung in Deutschland empfand den Versailler Vertrag dagegen als Unrecht, auch an der Saar, da das Saargebiet ohne Befragung der Bevölkerung abgetrennt wurde. Deutschland wurde die alleinige Kriegsschuld zugesprochen, deshalb war der Versailler Vertrag für viele ein Schandvertrag. Rache und Revanche bestimmten Teile der öffentlichen Meinung in Deutschland. Dazu kamen riesige Reparationsforderungen, die die Weimarer Republik zeitlebens belasteten.
Verfestigung von Nationalismus und Franzosenhass nach 1918
So formierte sich rasch im Saargebiet eine stramm nationalistische und antifranzösische Haltung. Die Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich verfestigte sich. Dazu trugen auch Erfahrungen der Völkerbundzeit bei. Schon zuvor war Frankreichs Ansehen vor allem im Kreis der Arbeiterbewegung nachhaltig beschädigt und Frankreich als Besatzer und Unterdrücker wahrgenommen worden. Am 22. November 1918 hatten französische Truppen das Land an der Saar besetzt. Sie lösten die Arbeiter- und Soldatenräte als Symbol des republikanischen Sieges am 24. November auf. General Grégoire begründete dies damit, die Arbeiter- und Soldatenräte seien nicht dazu legitimiert, für das Volk zu sprechen. Diese Maßnahme war ganz im Sinne der alten preußischen Eliten.
Damit war aber die Bewegung nicht gänzlich gebrochen. Aufgrund der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen streikten Bergleute im Dezember 1918 für den Achtstundentag. Die Empörung über die sozialen Missstände schwelte weiter und im Frühjahr 1919 (26. März bis 5. April 1919) gab es Streiks für Lohnerhöhungen. Französische Truppen warfen die Streikbewegung nieder, 21 Bergleute wurden von einem französischen Kriegsgericht zu Haftstrafen zwischen zwei und fünf Jahren verurteilt. Außerdem schoben die Franzosen 400 Bergleute ins Reich ab.
Im Oktober 1919 sollten die anhaltende Inflation und der Hunger in der Bevölkerung erneut für erhebliche Unruhe und Spannungen sorgen. Am 6. Oktober 1919 erlebte das Saargebiet erstmals in seiner Geschichte einen Generalstreik. Es kam zu Demonstrationszügen in Saarbrücken, verbunden mit Ausschreitungen und Plünderungen. Die französische Besatzungsmacht reagierte mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes und setzte ihre Kavallerie gegen die Streikenden ein. Insgesamt starben neun Menschen. In der Folge kam es zu Festnahmen, ein französisches Militärgericht verhängte die Todesstrafe und jahrelange Zwangsarbeit. Damit waren die Weichen für das Gefühl von Besatzung und Fremdbestimmung gestellt.
„Saareinwohner“ und das Gefühl der Fremdbestimmung
Gefühl des andauernden Kriegszustandes
Der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau sprach 1919 von den Saarfranzosen. Entgegen § 30 des Saarstatuts wurden französische Truppen an der Saar stationiert, unter ihnen auch nicht-weiße Menschen aus den französischen Kolonien. Weite Teile der Bevölkerung werteten dies als zusätzliche Demütigung. Erst am 31. Dezember 1930 zog Frankreich seine Truppen ab, nachdem dies über Jahre hinweg von den Vertretern des Saargebietes insbesondere gegenüber dem Völkerbund vergeblich gefordert worden war. Diese lange militärische Präsenz förderte im Zusammenspiel mit anderen Erfahrungen das Gefühl, dass der Kriegszustand noch andauere. Wollten Saarländer verreisen, mussten sie die Ein- und Ausreiseformalitäten über französische Stellen klären. Wollten sie in ihre Heimat Deutschland reisen, galt für sie der Passzwang. Sie fühlten sich als Deutsche, hießen aber in der Völkerbundzeit „Saareinwohner“.
Versuchte Auflösung der Bindung zu Deutschland bestärkt Nationalismus
Mit einer bewussten Distanzierung zu Preußen und der Unterstützung separatistischer Strömungen mit katholischem Hintergrund versuchte die französisch dominierte Regierungskommission Teile der Katholiken für sich zu gewinnen. Mit Kalkül zeigte sich die französische Seite bei der Genehmigung der für Katholiken so bedeutsamen Fronleichnamsprozession ausgesprochen liberal. In preußischer Zeit war dies an bestimmten Orten restriktiv gehandhabt worden, die Regierungskommission setzte sich jedoch davon ab. Schnell wurde diese Haltung aber nicht als aufrichtige Wertschätzung und liberale Haltung verstanden, sondern als Teil einer Strategie, die Bindung der Saarkatholiken an das Deutsche Reich aufzuweichen. Dazu trugen vor allem die Ambitionen bei, die Zugehörigkeit der Saarkatholiken zur Diözese Trier und Speyer auszuhebeln und stattdessen dem Bistum Metz anzugliedern oder gar ein eigenes Saarbistum auf den Weg zu bringen.
Kirchliche Abtrennungsstrategie bestärkt Nationalismus
Dieser französische Versuch des Herausbrechens aus der Kirchenorganisation zerstörte jegliches Vertrauensverhältnis und wurde als Angriff auf katholische Werte verstanden. Eine solche Neuorganisation hätte das Weiterbestehen des Bistums Trier in Frage gestellt.
Auch die evangelische Kirche sollte aus der rheinischen und pfälzischen Landeskirche herausgerissen werden. Superintendent Dr. Hubert Christian Nold wehrte sich gegen die französische Vorstellung einer evangelischen Saarkirche. Er weigerte sich, eine entsprechende neue Kirchenverfassung auszuarbeiten und suchte sich auf dem Kirchentag in Dresden Kirchenvertreter aus Schweden und der Schweiz als Bündnispartner, die bei der amerikanischen Regierung gegen die französischen Pläne intervenieren sollten. Nold war seit 1919 Vertreter der evangelischen Kirche im Rheinland bei der Völkerbundkommission und seit 1913 Superintendent des Kirchenkreises Saarbrücken.
Nicht zuletzt diese Erfahrungen erklären die nationalistische Rolle beider Kirchen im Abstimmungskampf 1935. Die protestantischen Pfarrer waren eng verbunden mit den Ideen des Deutschen Kaiserreiches. Die Gründung des Deutschen Kaiserreiches symbolisierte die Einheit von Kaiser, Reich und Protestantismus. Das Kaiserreich repräsentierte für die Mehrheit der Protestanten die bis dahin glücklichste und würdevollste Zeit deutscher Geschichte.
Die katholische Kirche war gerade wegen ihrer Leiderfahrung im Kulturkampf um eine Demonstration nationaler Zuverlässigkeit bemüht. Der Trierer Bischof Bornewasser trat konsequent für die Rückkehr zu Hitler-Deutschland ein. Der Kulturkampf mit seiner existenziellen Bedrohung des Katholizismus hatte im ausgehenden 19. Jahrhundert den Katholiken fehlende Vaterlandstreue unterstellt. Diese Erfahrung lag gerade mal 50 Jahre zurück und förderte eine nationalistische Haltung der Katholiken.
Ablehnung einer „gottlosen Laienschule"
Die ursprünglich allein für die Kinder des französischen Grubenpersonals geschaffenen Domanialschulen sollten nach den Vorstellungen der Grubenverwaltung auch von den Kindern der Saarbergleute besucht werden. Unterrichtssprache in den Domanialschulen war Französisch.
Der Schulstreit erschien als Beweis für Frankreichs Absicht, nicht nur wirtschaftlich die Saar zu beanspruchen, sondern das Saargebiet dauerhaft von Deutschland abtrennen zu wollen. Die Domanialschule wirkte wie ein Angriff auf die deutsche Identität der Saarbevölkerung. Beispielhaft dafür auch eine Aussage von Laurentius Vogt, Pfarrer in Alsweiler, auf dem Parteitag des Zentrums am 30. Juni 1920: „Nehme man den Saarländern die deutsche Sprache, dann mordet man unsere Seele.“ Sogar die SPD als klassischer Gegner der Konfessionsschulen reihte sich in den Kampf gegen die Domanialschulen ein wie auch die stark protestantisch geprägte Deutsch-Saarländische Volkspartei, die zeitweise vom Stahlindustriellen Hermann Röchling geführt wurde. Ein bildungs- und gesellschaftspolitischer Streit war zu einem nationalen Konflikt geworden.
Die Domanialschulen standen aus katholischer Perspektive für Frankreichs laizistisches Staatsverständnis, für einen Bruch mit der Konfessionsschule und stattdessen für ein Schulsystem der gemeinsamen Erziehung (Koedukation) von Jungen und Mädchen und vor allem für Klassen ohne konfessionelle Trennung (Interkonfessionalität). In dieser Wertung sah sich das Trierer Bistum auch durch die französische Politik in Lothringen bestätigt. Die Konfessionsschule war aus katholischer Sicht der Schlüssel für die Bildung und Stärkung des katholischen Milieus. Ihre Abschaffung symbolisierte die Absicht, den Katholizismus gesellschaftlich zu schwächen. Insofern bedeutete die französisch bestimmte Politik der Regierungskommission in der Schulfrage einen Generalangriff auf die katholische Kirche. Die Domanialschulen galten für sie als „erster Schritt zur gottlosen Laienschule“.
Die konfessionelle Trennung war beiden Kirchen wichtig, um ihr Milieu zu stärken und die Heranwachsenden nach den Werten ihrer Konfession zu prägen. Das Wort des Lehrers und des Pfarrers hatte gerade in den dörflichen Strukturen des Saarlandes erhebliches Gewicht in sämtlichen Lebens- und Erziehungsfragen.
Das Gefühl, in einer französischen Kolonie zu leben
Johannes Hoffmanns (Journalist, Mitglied des Zentrums) Losung im Saarkampf 1934/35 „Für Christus und Deutschland, gegen Nationalsozialismus und Neuheidentum“ blieb wirkungslos. Die nationale Perspektive dominierte. Auch aus den Erfahrungen des Kulturkampfes sahen sich die Katholiken wie das Zentrum dazu veranlasst, ihre Vaterlandsliebe als moralische Pflicht zu demonstrieren. Frankreichs Politik mit seinen Separierungs- bzw. Abtrennungsstrategien wirkte geradezu als Programm zur Förderung nationalistischer Gefühle und Reaktionen. Fühlte man sich im Kaiserreich als Kolonie Preußens, regiert von importierten Eliten aus Berlin und Ostpreußen, so fühlte man sich jetzt als französische Kolonie.
Auch die Saarbrücker Landeszeitung als Zeitung des Zentrums wurde zum Multiplikator dieser Sichtweise. So sprach man auf katholischer Seite davon, religiös und national seien schwesterliche Begriffe, und die religiösen Völker seien die nationalsten. Der am 3. Juni 1923 in Saarbrücken ausgerichtete Katholikentag mit 70.000 Teilnehmern wurde so zu einer nationalen Demonstration und zum Bekenntnistag der Treue der saarländischen Katholiken zu den Bistümern Trier und Speyer.
Bergarbeiterstreik von 1923 als „Klassenkampf fürs Vaterland"
Das eindrucksvollste Beispiel für die nationalistische Überlagerung gesellschaftlicher Konflikte ist der hunderttägige Bergarbeiterstreik von 1923. Mit der französischen Grubenverwaltung wurde jede sozialpolitische Frage zu Arbeitsbedingungen und Lohnerhöhungen auch zu einer nationalen.
Der Streik der 72.000 Saarbergleute stand für eine Solidarisierung mit dem Ruhrgebiet im Zeichen seiner Besetzung durch belgische und französische Truppen. Zum anderen ging es um Lohnerhöhungen, die gegenüber den neuen französischen Grubenherren gefordert wurden. Die Auseinandersetzung eskalierte mit dem Eintreffen weiterer französischer Truppen im Saargebiet am 7. Februar 1923, mit Massenentlassungen und der Kündigung von Wohnungen durch die französische Grubenverwaltung. Rigoros ging sie zunächst gegen die Streikenden vor. Dazu verhängte die französisch dominierte Regierungskommission den Belagerungszustand und erließ Notverordnungen, verbunden mit Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit.
Ein anfangs sozialpolitischer Konflikt wurde zum nationalen Kampf und dann zum Symbol des Aufbegehrens gegen französische Fremdherrschaft: „Ein Klassenkampf fürs Vaterland“, Symbol des nationalen Widerstandes der Saarländer gegen Frankreich und Symbol ihres Willens zur Selbstbestimmung. Die Halberger und Dillinger Hütte stellten den Betrieb infolge Kohlenmangels ein, die Röchling-Hütte in Völklingen und die Burbacher Hütte arbeiteten weiter, wobei Burbach englische Kohle bezog.