Saarabstimmung 1935 und ihre Hintergründe

Fehlende Unterstützung von außen

Autor: Hans-Christian Herrmann

Abtrennung der Saar nach dem Ersten Weltkrieg, Völkerbundverwaltung, Volksabstimmung nach 15 Jahren

Plakate zur Saarabstimmung 1935. - Stadtarchiv Saarbrücken. Geschäftsfeld Öffentlichkeitsarbeit, Mappe Nr. 269.

Plakate zur Saarabstimmung 1935. - Stadtarchiv Saarbrücken. Geschäftsfeld Öffentlichkeitsarbeit, Mappe Nr. 269.

Plakate zur Saarabstimmung 1935. - Stadtarchiv Saarbrücken. Geschäftsfeld Öffentlichkeitsarbeit, Mappe Nr. 269.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Saargebiet vom Deutschen Reich abgetrennt. Es unterstand ab 1920 dem Völkerbund. Dieser setzte eine Regierungskommission ein, die das Saargebiet verwaltete.

Die Bevölkerung war über den Landesrat vertreten, ein rein beratendes Organ, das Empfehlungen aussprechen konnte. Das Saargebiet gehörte weder zu Deutschland noch zu Frankreich, doch beide Staaten bemühten sich um großen Einfluss – wirtschaftlich, politisch und kulturell.

15 Jahre später, am 13. Januar 1935, sollte die Bevölkerung des Saargebiets im Rahmen einer Volksabstimmung entscheiden: Angliederung an Frankreich, Rückgliederung an Deutschland oder Beibehaltung der Völkerbundverwaltung bzw. Status Quo.

Der 13. Januar 1935: Über 90 Prozent für Rückgliederung an Hitler-Deutschland

Stimmzettel zur Saarabstimmung 1935. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Karl August Schleiden.

Stimmzettel zur Saarabstimmung 1935. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Karl August Schleiden.

Stimmzettel zur Saarabstimmung 1935. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Karl August Schleiden.

Das Ergebnis der Volksabstimmung vom 13. Januar 1935: Über 90 Prozent der Abstimmungsberechtigten votierten bei einer Wahlbeteiligung von 97 Prozent für die Rückkehr zu Deutschland – zu Hitler-Deutschland!

Aus heutiger Perspektive fällt es schwer, diese Entscheidung nachzuvollziehen, die scheinbar zwischen „Freiheit“ und „nationaler Einheit in einem verbrecherischen System“ wählen konnte. So beschrieb es nach 1945 der Philosoph Karl Jaspers.  Das Ergebnis erscheint gerade aus heutiger Perspektive unglaublich und beschämt deshalb viele Menschen.

Für Hitler-Deutschland trotz vor Hitler ins Saarland
fliehender Menschen?

Auf den ersten Blick auch deshalb unglaublich, weil ab 1933  Tausende von Emigranten aus dem Reich ins Saargebiet flohen, um der Gewalt und Verfolgung des NS-Staates zu entkommen. Die Emigranten erzählten von ihrem Leid. Auch die sozialdemokratische und kommunistische Presse berichtete über die politische Verfolgung durch die Nazis und die Zerstörung der Republik. Die Mehrheit der Menschen an der Saar las aber Saarbrücker Zeitung oder die Saarbrücker Landeszeitung. Die auflagenstärkste Presse des Saargebietes beschönigte oder verschwieg diese Nachrichten, insbesondere nach der Entlassung des Zentrums-Mitgliedes und Katholiken Johannes Hoffmann als Redakteur der Landeszeitung. Ebenso unterblieb ein intensiver Kontakt zwischen den Emigranten und der Bevölkerung. Viele Emigranten lebten abgeschottet in Lagern der französischen Grubenverwaltung oder waren in kommunistischen oder sozialdemokratischen Familien untergekommen. Die Kontakte zu den Einheimischen waren insgesamt eher gering.

Für Hitler-Deutschland trotz katholischer Mehrheit – zur Rolle der Kirchen

Haltung der obersten Kirchenvertreter für damalige Gläubige maßgeblich

Ebenso unverständlich wirkt das Ergebnis von über 90 Prozent mit Blick auf das mehrheitlich katholische Saargebiet. Mit einem Katholikenanteil von fast 75 Prozent erscheint es zunächst quasi als eine Bastion gegen Hitler, betonte doch die deutsche Bischofskonferenz 1932 noch die Unvereinbarkeit des katholischen Bekenntnisses und einer NSDAP-Mitgliedschaft. So waren auch die Wahlresultate der NSDAP im Saargebiet weit unter denen im Reich –bei den Landesratswahlen 1932 kam die NSDAP gerade mal auf etwas mehr als sechs Prozent.
Die starke katholische Orientierung sollte sich jedoch nicht gegen die Rückgliederung auswirken – im Gegenteil.
Einerseits fürchteten die Bischöfe von Trier und Speyer bei einem Nein zur Rückgliederung  wie auch weite Teile des Landklerus als Verräter stigmatisiert zu werden. Nachdem Hitler und die katholische Kirche ihr Verhältnis am 20. Juli 1933 in einem Reichskonkordat ausgehandelt hatten, hätte ein Eintreten gegen die Rückgliederung der im Konkordat vereinbarten politischen Neutralität der Kirche widersprochen. Ein klares Nein zur Rückgliederung hätte die Lage der katholischen Kirche im Reich schwer belastet. Zudem darf man von einer antifranzösischen Haltung der katholischen wie auch der evangelischen Kirche ausgehen angesichts massiver Gegensätze, die in der Völkerbundzeit deutlich geworden waren, etwa in Fragen der Kirchenverfassung und Schulpolitik.

Zu sehen ist aber auch, dass sich die katholische Kirche keineswegs neutral verhalten hat, sondern aktiv die Rückgliederung an Hitler-Deutschland betrieb und das, obwohl im Jahr 1933 die Hatz und Gewalt gegen Juden und politisch Andersdenke sowie die Zerstörung der Republik unübersehbar war. Insbesondere der Trierer Bischof Bornewasser zog die Strippen für Hitler-Deutschland wie die von ihm 1933 organisierte Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt zeigt, bei der die SA ein Ehrenspalier vor dem Trierer Dom stellte, der zugleich in einem Meer von Hakenkreuzfahnen eingehüllt wurde. Kritische Katholiken an der Saar ließ Bornewasser entfernen oder mundtot machen.Die Haltung der Bischöfe und obersten Kirchenvertreter war aber für die damaligen Gläubigen maßgeblich und so trugen sie zu Hitlers erstem international wahrgenommenen politischen Erfolg bei.

Druck der Deutschen Front und propagandistische Überlegenheit

Gewaltandrohung gehörte mit zum Abstimmungskampf – ein Klima der Angst für die Status-Quo-Befürworter. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Fritz Mittelstaedt, Nr. P 287.

Gewaltandrohung gehörte mit zum Abstimmungskampf – ein Klima der Angst für die Status-Quo-Befürworter. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Fritz Mittelstaedt, Nr. P 287.

Gewaltandrohung gehörte mit zum Abstimmungskampf – ein Klima der Angst für die Status-Quo-Befürworter. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Fritz Mittelstaedt, Nr. P 287.

Verständlich wird das Abstimmungsergebnis auch mit Blick auf das öffentliche Klima. Ab 1930 verfestigte sich die soziale und ökonomische Not und stärkte ohnehin das bereits bestehende nationalistische Klima im Saargebiet. Die mit der Auflösung der Parteien verbundene Bildung der Deutschen Front als Zusammenschluss für die Rückkehr zu Deutschland wirkte scheinbar entpolitisierend und reduzierte die Abstimmung auf ein Bekenntnis von nationaler  Identität und Treue zu Deutschland. Die Deutsche Front versuchte so geschickt die politische Perspektive des Nationalsozialismus auszublenden. Bezeichnend dafür die Parole „In die Deutsche Front muss jeder, der rückgegliedert werden will.“ Obwohl die NSDAP im Saargebiet lange Zeit verboten und organisatorisch vor 1935 eher schwach war, entstand ein der NSDAP zugewandtes Meinungsklima, verbunden mit einer Selbstgleichschaltung von Verbänden, Vereinen und anderen Organisationen.

Die Einwirkungen aus dem Hitler-Reich waren enorm. Das Singen des Horst-Wessel-Liedes, das Verwenden von Hakenkreuzfahnen und der Hitler-Gruß prägten schon 1934 den Alltag, obwohl die Regierungskommission dies zu unterbinden versuchte. Es gab zahlreiche Spitzel, die Gegner der Rückgliederung offenbarten und für vogelfrei erklären wollten. Der gesellschaftliche Druck war massiv und konnte die Existenz bedrohen.

Großkundgebung der Deutschen Front am 6. Januar 1935 auf dem Wackenberg. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Fritz Mittelstaedt, Nr. P 256.

Großkundgebung der Deutschen Front am 6. Januar 1935 auf dem Wackenberg. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Fritz Mittelstaedt, Nr. P 256.

Großkundgebung der Deutschen Front am 6. Januar 1935 auf dem Wackenberg. - Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Fritz Mittelstaedt, Nr. P 256.

Auch eine Reihe von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten traten unter diesem Druck der Deutschen Front bei. Sie zählte über 500.000 Mitglieder bei einer Bevölkerung von deutlich weniger als einer Million. Wer öffentlich als Anhänger des Status Quo galt, riskierte seinen Arbeitsplatz zu verlieren und seine Wohnung gekündigt zu bekommen – etwa wenn er bei den Stahlwerken von Hermann Röchling arbeitete. Auch die enorme propagandistische Überlegenheit der Deutschen Front (5 Mio. Briefsendungen, 1.500 Versammlungen, 1.500 sog. „kulturelle Veranstaltungen“, über 80.000 Plakate) spielt für das Abstimmungsergebnis eine wichtige Rolle. Sie zeigt die Schwäche und Chancenlosigkeit der antifaschistischen Perspektive, die als solche wiederum von vielen auch gar nicht wahrgenommen wurde.

Zurück zu Deutschland – eingeübter Konsens seit 1920

Von links bis rechts war zwischen 1920 und 1933 das Bekenntnis zu Deutschland das verbindende Element gewesen. Nationalismus war an der Saar in den 1920er Jahren noch stärker ausgeprägt als im Deutschen Reich. Die Saarbevölkerung sah sich als Opfer des Versailler Vertrages, die Abtrennung vom Deutschen Reich und die Völkerbundverwaltung empfanden die Menschen als Unrecht. Versailles wurde als Schandvertrag wahrgenommen. Die Erfahrungen und Konflikte mit der Völkerbundverwaltung verfestigten und steigerten diese nationalistische Perspektive. Diese fest eingefahrene Linie wurde nach Hitlers Machtergreifung zuerst von der SPD mit ihrem Vorsitzenden Max Braun aufgegeben. Brauns Kurs war aber in den eigenen Reihen nicht unumstritten. Er war ein Vordenker seiner Zeit und stand der ausgeprägt nationalen Orientierung seiner Partei distanziert gegenüber. Ihn leitete der Gedanke deutsch-französischer Verständigung und das Saarland sollte Keimzelle eines vereinten Europa werden, so Braun im Jahr 1929.

Spät gebildete Front gegen Hitler

Braun war 1933 in seinem Werben gegen die Rückgliederung zunächst vorsichtig, wollte man doch von der Saar aus die Sozialdemokraten im Reich nicht in Gefahr bringen und der NSDAP einen Vorwand für weitere Gewaltaktionen liefern. Nach dem Verbot der SPD im Reich am 22. Juni 1933 warb Braun engagiert für den Status Quo. Er suchte das Bündnis mit Kommunisten und kritischen Katholiken. Die KP bekämpfte zunächst seine Idee der Einheitsfront, auf lokaler Ebene formierte sie sich aber zwischen März und Juni 1934 und im Juni 1934  dann auf Landesebene. Die Einheitsfront wurde aber als politisch links wahrgenommen, auch wenn Johannes Hoffmann und einige andere Katholiken sich ihr angeschlossen hatten. Dies schwächte ihre Chancen Einfluss nehmen zu können und Menschen für sich zu gewinnen.

Hitler-Gegner kämpfen auf verlorenem Posten

Schwierig Status Quo als Alternative zu vermitteln

In einem von der Deutschen Front bestimmten Meinungsklima war es schwer den Status Quo als Alternative vermitteln zu können. Die Entscheidung dafür sollte als vorübergehende Phase verstanden werden, bis demokratische Verhältnisse im Reich wieder hergestellt waren. Diese Perspektive stand aber gar nicht zur Wahl, sondern der Status Quo war endgültig. Der Völkerbund war nicht bereit, die Saarfrage der ab 1933 veränderten politischen Situation anzupassen, eine Verschiebung der Volksabstimmung lehnte er ab.  Dieser Vorschlag ging davon aus, dass Hitler sich nicht lange als Kanzler halten würde.

Frankreich, Großbritannien und der Völkerbund unterstützten die Status Quo-Anhänger nicht - sie rechneten selbst mit der Rückgliederung und so vereinbarte Frankreich bereits am 3. Dezember 1934 mit Hitler-Deutschland den Verkauf seiner 1919 erworbenen Eigentumsrechte an den Saargruben und der saarländischen Eisenbahn.

Fehlende Unterstützung von außen

Plakate zur Saarabstimmung 1935. Stadtarchiv Saarbrücken. - Geschäftsfeld Öffentlichkeitsarbeit, Mappe Nr. 269.

Plakate zur Saarabstimmung 1935. Stadtarchiv Saarbrücken. - Geschäftsfeld Öffentlichkeitsarbeit, Mappe Nr. 269.

Plakate zur Saarabstimmung 1935. Stadtarchiv Saarbrücken. - Geschäftsfeld Öffentlichkeitsarbeit, Mappe Nr. 269.

Die Gegner des Nationalsozialismus an der Saar wurden nur unzulänglich von außen unterstützt. Die antifaschistische Perspektive blieb mit Blick auf den 13. Januar 1935 die Minderheitsperspektive bzw.  Minderheitsmeinung. Sie drang nicht in die Mitte der Gesellschaft vor – eine Gesellschaft, die keine demokratische  und republikanische Identität entwickelt hatte und nicht zuletzt auch durch die Völkerbundverwaltung und insbesondere das Auftreten ihrer französischen Vertreter eine solche nur schwer entwickeln konnte. Frankreich erschien der Mehrheit eben nicht als Garant für Demokratie, Freiheit oder wirtschaftliche Sicherheit und der Völkerbund stand nicht für Schutz, sondern für Bevormundung und Fremdherrschaft. Der Slogan der Deutschen Front „Deutsche Mutter – heim zu Dir!“ fiel auf fruchtbaren Boden. Die Angst  insbesondere von Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten, mit der Rückgliederung zu Deutschland um ihr Leben fürchten zu müssen, erreichte die öffentliche Meinung nicht und dürfte der Mehrheit auch gleichgültig gewesen sein.