Die jüdische Volksschule (1934)
Eine eigene jüdische Volksschule, wie sie in Saarwellingen, Tholey oder Ottweiler existierte, unterhielt die Gemeinde in Saarbrücken – abgesehen von einem kurzen Zeitraum von 1825 bis 1831 – bis zum Schuljahresbeginn 1934 nicht. Die hiesigen jüdischen Kinder besuchten die öffentlichen christlichen Schulen. Lediglich der Religionsunterricht fand, meist nachmittags, gesondert statt. Im Jahr 1932 unterrichtete ein seminaristisch ausgebildeter Religionspädagoge in sechs Klassenstufen insgesamt 209 Kinder. Erst als sich infolge der nationalsozialistischen Propaganda die verbalen und physischen Übergriffe auf jüdische Kinder häuften und eine Auswanderung nach dem damaligen Palästina Vielen als Gebot der Stunde galt, stellte die Saarbrücker Synagogengemeinde auf Drängen der Elternversammlung der Religionsschule am 26. Juli 1933 bei der Regierungskommission den Antrag auf Gründung einer „Jüdischen Volksschule“.
Ausgrenzung und Gewalt gegen jüdische Kinder vor 1935
Mit ihrem Antrag reagierte die Gemeinde nicht allein auf die örtlichen Vorkommnisse, sondern durchaus vorausschauend auf die seit einiger Zeit erkennbare Ausgrenzung nicht arischer Kinder an weiterführenden Schulen auf deutschem Reichsgebiet. Auch auf der ersten Hilfskonferenz der europäischen Juden im Frühsommer 1933 in Paris, an der der Saarbrücker Rabbiner Schlomo Rülf teilgenommen hatte, wurde die Gründung eigener jüdischer Volkschulen als unabdingbar gefordert, wollte man die eigenen Kinder nicht als Analphabeten aufwachsen sehen.
Die Regierungskommission hatte infolge der Vorkommnisse in einer „Anordnung zum Schutze der Kinder jüdischer Religion“ zwar unmittelbar nach Bekanntwerden verfügt, dass die Direktoren- und die Lehrerschaft alles zu unternehmen habe, um solche Übergriffe zu unterbinden und dass Kinder jüdischen Glaubens vor Verspottung und sonstigen Angriffen zu schützen und Vergehen aufs strengste zu bestrafen seien. Angesichts des allgemeinen politischen Klimas, das auch die saarländische Lehrerschaft erfasste, blieben diese Anordnungen jedoch meist wirkungslos.
Die nicht unumstrittene Idee einer jüdischen Volksschule
Die Schulgründung stieß nicht bei allen jüdischen Eltern auf Gegenliebe. Die zionistischen Vorstellungen Rülfs lösten durchaus bewegte Diskussionen aus. Vor allem die assimilierten jüdischen Familien befürchteten ein geringeres Bildungsniveau ihrer Kinder. Rülf versuchte die Einwände zu widerlegen und erläuterte das Vorhaben im „Nachrichtenblatt der Synagogen-Gemeinde des Kreises Saarbrücken“ vom 3. August 1933 in einem Leitartikel wie folgt:
„Am 15. Juli fand ein Elternabend der Religionsschule statt, der einer Aussprache über die Situation der jüdischen Schulkinder in Saarbrücken gewidmet war. Im Verlaufe dieser Aussprache wurde seitens der Elternschaft das spontane Verlangen nach Errichtung einer jüdischen Volksschule zum Ausdruck gebracht. Nahezu einstimmig wurde folgende Entschließung angenommen:
"Die Teilnehmer des Elternabends vom 19. Juli (!) 1933 halten die Gründung einer jüdischen Volksschule in Saarbrücken zum frühest möglichen Termin für dringend wünschenswert. Sie bitten die Verwaltung der Saarbrücker Synagogengemeinde, die hierfür geeigneten Schritte zu unternehmen."
Der Entschluß der Eltern, für diese Resolution zu stimmen, ergab sich aus der Erkenntnis, daß die Lage unserer Kinder in den städtischen Schulen zu den ernstesten Besorgnissen Anlaß gibt. Es mehren sich Fälle, in denen jüdische Kinder in ihren Klassen, auf dem Schulhofe oder auf dem Schulwege groben Gewalttätigkeiten seitens ihrer Mitschüler ausgesetzt sind. Häufig konnten die Namen der Angreifer nicht festgestellt werden. Wo dies jedoch möglich war und die Schwere des Falles ein Eingreifen erforderlich machte, wurde bei den in Frage kommenden Schulleitern Beschwerde erhoben. Es soll dankbar anerkannt werden, daß ein Teil der Beschwerden mit dem nötigen Nachdruck bearbeitet wurde, so daß die gröbsten Mißstände beseitigt werden konnten.
Von den kleinen Beleidigungen und Erniedrigungen schweigen sie aus Scham
In anderen Fällen wurden jedoch die Beschwerden von den betreffenden Schulinstanzen nicht mit ausreichender Energie behandelt, so daß ein Ergebnis nicht erzielt wurde. Es liegen auch Äußerungen von Schulmännern vor, daß sie gegen die Verhetzung der Schüler auch beim besten Willen kaum etwas auszurichten imstande seien. Bisweilen wurden unsere Bemühungen, die jüdischen Kinder zu schützen, durch passive Resistenz und sogar feindselige Einstellung vereitelt. Die faßbaren Fälle treten jedoch weit zurück hinter der Fülle kleiner Quälereien, Kränkungen und Bosheiten, die unsere Kinder tagtäglich zu erdulden haben und die durch keine Beschwerde beseitigt werden können. Hiervon erhalten die Eltern nur selten Kenntnis. Denn Kinder sprechen im Allgemeinen nur von den gravierenden Vorkommnissen.
Von den kleinen Beleidigungen und Erniedrigungen schweigen sie aus Scham; sie wollen sich selbst ihr Martyrium nicht eingestehen und verdrängen ihre Erlebnisse in das Unterbewußtsein. Jeder Jugendpsychologe weiß, daß sich daraus in der Zukunft schwere Schädigungen des Seelenlebens ergeben müssen. Die Eltern erfahren all das nur indirekt durch die gedrückte Stimmung der Kinder, ihre Furcht, mit anderen Kindern zu spielen und ihre Scheu vor der Schule. Aber selbst wenn den jüdischen Kindern gar nichts "passierte", wäre ihre Lage unter den gegenwärtigen Verhältnissen schlimm genug. Denn sie leben in den Schulen fast völlig isoliert, gleichsam im luftleeren Raum, von Kälte und Ablehnung umgeben. Sie fühlen, daß sie nicht "dazugehören" und daß die allgemeinen Regeln der Kameradschaft auf sie nicht angewendet werden.
Gegenüber diesem Schulmartyrium gibt es keine andere Möglichkeit als den Versuch, die jüdischen Kinder wenigstens in den ersten Schuljahren im eigenen Kreise zu erziehen, bis sich ihre seelische Widerstandskraft gefestigt hat. So erklärt es sich, daß sich aus der Summe der Einzelbelrichte in der Elternversammlung der klare Wille herauskristallisierte, einer jüdischen Schule den Weg zu ebnen. Die Gründung einer jüdischen Volksschule in Saarbrücken für die 200 in Frage kommenden Kinder erscheint schon deshalb gerechtfertigt, weil es im Saargebiet keine simultanen, sondern nur konfessionelle Volksschulen gibt. Da in den katholischen und evangelischen Schulen naturgemäß das konfessionelle Moment auch außerhalb des eigentlichen Religionsunterrichtes stark in den Vordergrund tritt, gebietet es die Gerechtigkeit, auch für die jüdischen Schüler dieselbe Erziehungsmöglichkeit zu schaffen.
97 jüdische Volksschulen in Preußen
Es gibt in Preußen 97 jüdische Volksschulen, die in größeren Städten wie z. B. Essen und Dortmund - acht Klassen umfassen. Wenn in Saarbrücken nicht alle Jahrgänge stark genug sind, um je eine Klasse für sich zu bilden, würden wir uns mit fünf oder sechs Klassen, von denen einige je zwei Jahrgänge umfassen begnügen.
Auch in dieser Form wäre die Schule durchaus lebensfähig.Schulunterricht bezweckt ja nicht nur die Vermittlung von Kenntnissen, sondern auch Charakter- und Gesinnungsbildung. Wir Juden haben den begreiflichen Wunsch, daß diese Bildung bei unseren Kindern eine jüdische Note erhält. Wir sind der Meinung, daß der Geist des Judentums eine starke erzieherische Kraft besitzt, und möchten unseren Kindern möglichst viel von dieser Kraft in ein Leben mitgeben, das sie voraussichtlich vor besonders schwere Aufgaben stellen wird. Der Religionsunterricht, den wir z. Zt. nachmittags in der Religionsschule erteilen müssen, leidet unter unvermeidbaren Hemmungen und Unvollkommenheiten. Er gliedert sich nicht organisch in den Gesamtunterricht ein und nimmt überdies unseren Kindern viel Freizeit fort. So nötig und wichtig er unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist, so sehr wäre zu wünschen, daß der Geist und die Lebensform des Judentums in weit vollkommenerer Weise durch den Gesamtunterricht einer jüdischen Volksschule vermittelt würde.
Moderne Grundsätze und ausgebildete jüdische Lehrer
Was aber wohl das Wichtigste ist: Unsere Kinder bekommen in der jüdischen Volksschule eine freie, unbefangene jüdische Haltung und erleben ihr Judesein als etwas Selbstverständliches und Beglückendes. Sie wachsen in ihrer Schule ohne inneren Zwiespalt heran und können sich gradlinig entwickeln. Sie brauchen bei keinem Unterrichtsgegenstand in Konflikt zu kommen, brauchen keine inneren Vorbehalte zu machen und können alles, was sie lernen und in der Schulgemeinschaft erleben, freudig bejahen. Fast ist es unnötig zu betonen, daß auch die Schüler einer jüdischen Schule zu guten Staatsbürgern erzogen werden.
Die nach modernen Grundsätzen ausgebildeten jüdischen Lehrer sorgen selbstverständlich dafür, daß ihre Schüler nicht in die Absonderung eines geistigen Ghettos zurückgedrängt werden. Das deutsche Kulturgut wird auf Grund des allgemein festgelegten Lehrplanes genauso wie in jeder anderen Schule gepflegt. Der Unterricht untersteht der Aufsicht der staatlichen und städtischen Schulbehörden. Die Anzahl der eigentlichen Religionsstunden ist nicht höher als in den übrigen Volksschulen, und die Kinder verlieren damit nicht mehr, wie bisher, zwei Nachmittage.
Die jüdische Volksschule wird einem Teil unserer Kinder die ausreichende Vorbildung für einen praktischen Beruf geben. Handfertigkeitsunterricht wird besonders gepflegt werden. Daneben besteht wie in allen saarländischen Volksschulen die Möglichkeit zur Erlernung einer Fremdsprache. Eine solche Volksschulbildung ist wertvoller als eine halbe Gymnasialbildung. Es ist daher zu hoffen, daß der Andrang jüdischer Kinder zu den höheren und Mittelschulen nachlassen und eine gesündere Berufsschichtung Platz greifen wird.“
Am 13. März 1934 erteilte die Regierungskommission ohne nennenswerte Widerstände die Erlaubnis zur Einführung einer öffentlichen jüdischen Volksschule zum 1. April 1934. Diese bildete einen eigenen Schulverband, unterstand der Schulaufsicht des Kreises Saarbrücken und umfasste vier Klassen mit acht Jahrgangsstufen. Trägerin der Schule war die Synagogengemeinde Saarbrücken. Auch nicht im Kreis Saarbrücken wohnende Kinder konnten die Schule besuchen, mussten allerdings Schulgeld bezahlen. Zum Schuljahresbeginn am 13. April 1934 unterrichteten drei Lehrer und eine Lehrerin insgesamt 88 Jungen und 111 Mädchen. Schulleiter wurde der 1899 in Ottweiler geborene Heinrich Herrmann. Er hatte in Münster studiert, verbrachte mehrere Jahre in Palästina, war Anhänger der Reformpädagogik und kam von einer jüdischen Privatschule in Graz nach Saarbrücken.
Die Stadt Saarbrücken stellte der Gemeinde das mittlerweile ungenutzte Schillerschulhaus in der Schillerstraße 6 in unmittelbarer Nähe der Evangelischen Kirche zur Verfügung. Das heute als Schillerschule bekannte bzw. so bezeichnete Gebäude in der Bismarckstraße hieß in jenen Jahren Bismarckschule. Hier kommt es häufig zu Verwechslungen. Der Ausschnitt des wiedergegebenen St. Johanner Stadtplanes aus dem Jahr 1898 zeigt die Lage der damaligen Schillerschule (22) in der Schillerstraße 6 in unmittelbarer Nähe zur Evangelischen Kirche (21) und dem alten Rathaus von St. Johann (20). Eine Ansicht dieser Schule ist bisher nicht bekannt.
Hatten im Schuljahr 1934/35 überwiegend Saarbrücker Kinder die Schule besucht, änderte sich das Bild mit der Rückgliederung des Saargebietes. Die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung verließ bereits vor oder kurz nach der Saarabstimmung das Land, die wenigen verbliebenen Schülerinnen und Schüler aus dem übrigen Saargebiet wurden teilweise gezwungen, die jüdische Schule in Saarbrücken zu besuchen. Die Fluktuation an der Schule war groß. Die soziale Zusammensetzung der Schüler veränderte sich, stammten diese jetzt aus weniger wohlhabenden Familien, die sich eine Emigration nicht leisten konnten. Äußerte sich Schlomo Rülf 1933 in Bezug auf die pädagogischen Ziele der Schule noch optimistisch, war eine gute pädagogische Arbeit aufgrund der Verhältnisse jetzt nicht mehr zu leisten, ein normaler Unterricht kaum möglich. Die allgemeine Isolierung, die Kränkungen und Demütigungen, die die Kinder im Alltag erfuhren, die Unsicherheit in den Familien, weite Schulwege für sechs- bis zehnjährige Kinder, keine Klassengemeinschaften, fehlende Freundschaften, all das wirkte sich auf die psychische Verfassung der Schülerinnen und Schüler aus. Hinzu kam das Fehlen von Unterrichtsmaterialien, die ungewohnte Koedukation von Jungen und Mädchen, das gemeinsame Unterrichten verschiedener Jahrgangsstufen, so dass das Lernniveau sich auf einem äußerst niedrigen Level bewegte.
Judenkinder Fehlanzeige!
Die Schülerzahl nahm so rapide ab, dass zum 21. April 1936 für das folgende Schuljahr nur noch zwei Klassen zustande kamen und die Schule nun zwei Klassenräume in der Trillerschule zugewiesen bekam. Auch dieses Domizil sollte aufgrund der sich zuspitzenden politischen Umstände nur von kurzer Dauer sein. Das „Nachrichtenblatt der Synagogen- Gemeinde des Kreises Saarbrücken“ teilte in seiner Ausgabe vom 20. August 1937 schließlich mit:
„Nachdem das bisherige Schulhaus am Triller der Jüdischen Volksschule nicht mehr zur Verfügung steht, wird der Unterricht nach den großen Ferien in den Räumen des Gemeindehauses, Futterstraße 25, erteilt werden. Der bisherige Betsaal sowie das dahinterliegende Sitzungszimmer werden durch Umbau und Renovierungsarbeiten zu schönen, hellen modernen Schulräumern hergerichtet.“
Entmenschlichung und Zerstörung von Bildungsmöglichkeiten für jüdische Kinder
Mit dem Niederbrennen der Synagoge in der Pogromnacht am 9. November 1938 wurde die Jüdische Volksschule vorerst geschlossen. Direktor Heinrich Herrmann und der verbliebene Lehrer Leo Grünfeld waren von der Saarbrücker Gestapo verhaftet worden und das Kreisschulamt notierte, dass infolge der Inhaftierung der beiden Lehrer der Schulunterricht nicht mehr durchführbar sei.
Da die verbliebenen jüdischen Kinder jedoch aufgrund der allgemeinen Schulpflicht weiterhin unterrichtet werden mussten, dies jedoch an öffentlichen Schulen seit dem ministeriellen Erlass vom 15. November 1938 untersagt war, da es für „deutsche Schüler und Schülerinnen unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen“, verfügte das Ministerium am 17. Dezember 1938, dass die jüdischen Lehrer aus der Haft zu entlassen seien und der Unterricht wieder aufgenommen werden müsse. Direktor Heinrich Herrmann, der mehrere Wochen in Dachau interniert war, hatte jedoch nach seiner Rückkehr aus dem Lager zum Jahresende 1938 um seine Entlassung aus dem Schuldienst gebeten und emigrierte. So unterrichtete Leo Grünfeld, der am 19. Dezember 1938 aus dem KZ Dachau entlassen worden war, die verbliebenen 33 Schüler ab dem 9. Januar 1939 im provisorisch wiederhergestellten Gemeindehaus in der Futterstraße alleine weiter. Im April 1939 sollten es nur noch 22 Kinder sein.
Die Evakuierung der Stadt am 3. September 1939 bedeutete schließlich das Ende der jüdischen Schule in Saarbrücken. Aus dieser kehrten nur eine Handvoll jüdischer Kinder zurück. Ihnen blieb meist nur der Weg nach Frankfurt in die dortige jüdische Schule. Ab 1. Juli 1942 war jegliche Beschulung jüdischer Kinder von der Regierung untersagt.