Heilbronner Friedl

Letzte Jahre in München

Autor: Marcel Wainstock

Frieda Oppenheimer wurde am 20. Juli 1909 in der Saarbrücker Försterstr. 15 geboren. Ihr um fünf Jahre älterer Bruder war der später berühmt gewordene Max Ophüls. Der Vater Leo Oppenheimer war ein erfolgreicher Kaufmann, der in der Saarbrücker Bahnhofstraße zwei Konfektionsgeschäfte besaß: Das „Welthaus für Herren- und Knabenbekleidung“ und eine  Filiale von „Bamberger & Hertz“, die sein Schwiegervater, der Vater seiner Frau Helene geb. Bamberger, gegründet hatte.

1923 zog die Familie nach Scheidt an die Adresse „Am Schmittenberg  9“, wo der Vater einen schönen 7000 Quadratmeter großen Grundbesitz erworben und ein Landhaus gebaut hatte.

Ein schönes und sorgloses Leben in Saarbrücken

Von 1916 bis 1929 besuchte Friedel das Augusta-Viktoria-Lyzeum in Saarbrücken.

Nach der Reifeprüfung studierte sie in Berlin und London zwei Semester offiziell Nationalökonomie und Journalistik, hauptsächlich um den Vater zu beruhigen, in Wirklichkeit interessierte sie das Theater; der von ihr bewunderte ältere Bruder Max befand sich zu jener Zeit in Berlin und sie besuchte dort auch das Reinhardt-Seminar. Damals schon, 1929, erlebte sie an der Berliner Universität  die ersten antisemitischen Unruhen und Schlägereien zwischen politischen Gruppierungen. Die Studentenverbindungen waren größtenteils antisemitisch eingestellt und nahmen keine Juden auf. Daraufhin gründeten jüdische Studenten ihre eigenen jüdischen Verbindungen. Diese feindselige Atmosphäre behagte Friedel nicht und bewog sie, Berlin zu verlassen, um ihr Studium in London fortzuführen.

Am 30. Januar 1930 heiratete sie in Saarbrücken Otto Haymann (geb. 5.12.1898 in Saarburg), damals Inhaber der Tuchgroßhandlung „Neumark & Co“, den besten Freund ihres ersten Verlobten, mehr oder weniger aus Trotz.

Friedels erster Verlobter, den sie innig liebte, als sie mit 19 noch vor dem Abitur stand, war der Saarbrücker Rechtsanwalt Karl Hirsch gewesen. Karl Hirsch war damals 31 Jahre alt und, wie es hieß, ein sehr „erfahrener“ Mann.  Als er sah, dass sein junger Schatz voller Ideale von Treue steckte, beichtete er ihr sechs Wochen vor der Hochzeit, dass er schon seit längerem eine Liaison mit Angela Braun, der Frau von Max Braun habe, von der er nicht los komme.

Skandal - Verlobungsauflösung - der Vater Oppenheimer war sehr enttäuscht über die Auflösung der Verlobung und verbot dem neuen Schwiegersohn den Umgang mit seinem Freund Karl Hirsch, was dieser akzeptierte.

(Ironie des Schicksals: Friedel und Otto Haymann sollten viel später in Buenos Aires Karl Hirsch, der inzwischen eine Ruth Oppenheimer geheiratet hatte, eine namensgleiche Nichte des Schriftstellers Jakob Wassermann, deren Familie in Argentinien lebte, wieder treffen und einen guten Kontakt miteinander pflegen.)

In den ersten Jahren wohnte das junge Paar Haymann am Neugrabenweg. Im Dezember 1931  zogen sie in eine ausgebaute Villa, die dem Vater Oppenheimer gehörte, in die Prinz-Friedrich-Karl-Str. 9 auf dem Triller, wo sie bis kurz vor der Auswanderung blieben (heute, seit 1947, umbenannt in Graf-Philipp-Str.).

Während des ersten Jahres der Ehe liquidierte Otto Haymann sein eigenes Geschäft und wurde Direktor der beiden Firmen des Schwiegervaters. Das junge Paar führte ein schönes sorgloses Leben, beschäftigte zwei Hausmädchen und einen Gärtner, besaß einen Wagen und verreiste regelmäßig in die Ferien.

Frühes Erkennen der Gefahren durch den Nationalsozialismus

Im September 1933 war Friedel mit ihrer ersten, zweieinhalbjährigen Tochter einmal in Falkenstein bei Königstein im Taunus zu Besuch bei dem Frankfurter Bamberger-Onkel. Das Kind spielte im Garten mit anderen Kindern. Da kam ein sieben- bis achtjähriger Junge hinzu und sagte zu den anderen: „Mit dem Kind dürft ihr nicht spielen, das ist ein Judenkind“. Friedel war entsetzt und erklärte ihrer Tante „Morgen reise ich ab“, was diese für übertrieben hielt. Friedel reiste jedenfalls ab und ging am folgenden Tag in Saarbrücken zur Bergwerksdirektion in der Trierer Straße  1 (heutige Europa Galerie), der damaligen „Administration des Mines Domaniales du Bassin de la Sarre“; hier konnte man die französische Einbürgerung beantragen. Auch die Saarbrücker Familie mit Ausnahme des  Vaters hielt ihr Verhalten für übertrieben und erklärte sie für verrückt. Sie beharrte jedoch darauf, nach Frankreich auswandern zu wollen, und hatte auch ihren Mann soweit überzeugt, dass sie beide zunächst  für vier Wochen nach Paris gefahren sind, um die Situation dort zu erkunden -  jedoch mit dem Ergebnis, dass sie nichts geeignetes gefunden haben. Friedels Mann war eigentlich auch gar nicht so richtig gewillt, seine gute Stellung und das schöne Leben in Saarbrücken aufzugeben. Er gehörte zu den Leuten, die der Auffassung waren, wenn man anständig ist, passiert einem nichts. Viele deutsche Juden dachten damals so, wir haben eine reine Weste, wir sind als Deutsche anerkannt, es wird uns nichts passieren.

Geschickt eine Chance genutzt in der Hoffnung auf Sicherheit in Frankreich

Dann hat das Schicksal es gut mit dem jungen Paar gemeint. Ein Franzose, Michel Scherman, Lieferant des väterlichen Geschäfts, der gerade eine große Pleite erlebt hatte und kinderlos war, wollte sein Geschäft, das er zusammen mit seinem Vater führte, unbedingt verkaufen. Als Friedel abends ihren Mann im Geschäft abholte, sagte Michel Schermann: „Friedel, heute Abend können Sie ihr größtes Glück bei mir machen. Wollen Sie unsere Fabrik kaufen?“ Es ging um eine große Mantel-Fabrik, die nach Saarbrücken Regenmäntel lieferte. Der französische Fabrikbesitzer war ein Jude russischer Herkunft. Friedel und ihr Mann nahmen den Herrn zum Abendessen mit nach Hause, auch der Vater Oppenheimer kam in die Villa hinzu und nach dem Essen besaßen die Haymanns im Prinzip eine Fabrik in Paris.

Zum Jahreswechsel 1934/35 sind die Haymanns dann nach Paris gefahren und haben die Fabrik übernommen. Otto Haymann sprach kein Wort Französisch und Friedel nur ihr Schulfranzösisch. Aber sie hatte sich von Anfang an verpflichtet, in Paris mitzuarbeiten, was sie dann auch tat.

Zur Saarabstimmung war Friedel ebenso wie ihr Bruder Max nach Saarbrücken gekommen. Angesichts des zu erwartenden Ausgangs brachten sie ihre Eltern noch am Abend der Abstimmung nach Metz in Sicherheit.

Das elterliche Saarbrücker Geschäft „Welthaus“ sowie die Häuser in Scheidt und in der Försterstraße wurden 1935 kurze Zeit nach dem Weggang der Eltern nach Metz von Friedl, wie damals in den meisten Fällen, weit unter Wert verkauft. Die restlichen Waren aus dem Geschäft sowie die Einrichtung der Häuser wurden im Wege einer öffentlichen Versteigerung unter Aufsicht von Friedel verkauft (ermöglicht durch das Schutz-Jahr durch das „Römische Abkommen“ im Saargebiet). Einen Teil der Möbel hatte sie mit einem Spediteur zu den Eltern geschickt, den Rest verschenkt. Die Eltern sind dann in die Nähe von Paris gezogen und Friedel und ihr Mann kümmerten sich um ihre Pariser Fabrik.

Bei Kriegsbeginn hatte Friedel ihren Mann in Paris allein mit der Fabrik zurückgelassen, ihre beiden Kinder mit ihrer ehemaligen Saarbrücker Freundin Lise-Lotte Lyon (Lise-Lotte befand sich mit ihren Eltern zufällig im gleichen Ort versteckt) als Kindermädchen in Vichy untergebracht und für die ganze Familie (mit den Eltern und den Kindern) in La Bourboule (Puy de Dôme), einem kleinen Thermal- und Luftkurort ca. 50 Kilometer südwestlich von Clermont-Ferrand, ein Haus gemietet.

Ein ehemals wohlhabender jüdischer Emigrant aus Prag, der mit seiner Frau und zwei Kindern in letzter Minute ohne Geld nach Frankreich geflohen war, hatte den Tschechen noch ein Patent für Antigas-Schutzbekleidung abgerungen. Der Rabbiner von Versailles hatte ihn kennengelernt und ihn an Friedels Vater Leo Oppenheimer weiterempfohlen. Als jener sein Schicksal erzählt hatte, sagte der Vater: „Ich habe einen Schwiegersohn, der Regenmäntel in seiner Fabrik produziert, ich bring Sie mit ihm zusammen, vielleicht können Sie da irgendwie eintreten.“ Das war ein glücklicher Umstand. Die beiden Herren kamen geschäftlich zusammen, haben sich mit dem französischen Rüstungsministerium in Verbindung gesetzt und bekamen den Auftrag, für die französische Regierung Antigasanzüge zu produzieren. Dadurch brauchten außerdem beide nicht in den Krieg zu ziehen. Alles lief recht gut bis Frankreich von der Wehrmacht überrannt wurde, Paris besetzt und die Fabrik von ihnen konfisziert wurde.

Bedrohung nach dem Überfall auf Frankreich

Als die Deutschen vorrückten, sind nur Friedels Eltern und Lise-Lotte in La Bourboule zurückgeblieben. Friedel, ihr Mann und die Kinder sowie Max‘ Frau, die im 8. Monat wieder ein Kind erwartete, und ihr kleiner Sohn Marcel, sind mit dem Auto weiter durch Frankreich in den noch unbesetzten Süden gefahren bis nach Bayonne am Atlantik am Fuße der Pyrenäen in der Nähe von Biarritz, in der Hoffnung, nach Spanien gelangen zu können. Es hatte zwei Wochen lang nur geregnet, ganz Frankreich war auf der Flucht, man übernachtete auf Speichern, in Scheunen, in Kirchen, einmal sogar in einem Kino, und in Bayonne angelangt, erfuhren sie, dass Spanien seine Grenze zum Einwandern für naturalisierte Franzosen deutschen Ursprungs ohne ein französisches „visa de sortie“ inzwischen geschlossen hatte. Das war eine Neuerung der Vichy-Regierung, die mit den Deutschen zusammenarbeitete. 

Friedel gab aber nicht so schnell auf. Sie ging mit der hochschwangeren Schwägerin (um Mitleid zu erwecken) zum Präfekten und erklärte ihm, dass sie Juden seien und Hilfe benötigten. Darauf sagte der Präfekt: „Wie Sie mich da sehen (er hatte seinen schwarzen Anzug an und die Schärpe umgehängt) warte ich auf die Deutschen. Das Einzige, was ich Ihnen geben kann, sind ein paar Benzingutscheine, versuchen Sie in die Pyrenäen zu fliehen,  schauen Sie, dass Sie sich in Sicherheit bringen und gehen Sie dort auf die nächste Präfektur.“

Inzwischen war auch Max bei ihnen, den sie im Camp d’Avord abgeholt hatten, wo er,  ebenfalls Franzose geworden, seinen Militärdienst ableistete. Max stand wegen seiner antifaschistischen Rundfunkarbeit auf der Auslieferungsliste. Er trug noch seine Uniform und durfte ja nicht als Deserteur gelten. Sein Oberst hatte ihm eine Bescheinigung mitgegeben, nach der er das Informationsministerium wieder aufsuchen sollte. Er hatte ihm gesagt: „Wir sind alle auf der Flucht, das gibt dir die Möglichkeit, mit diesem Schein durch ganz Frankreich zu fahren, denn du wirst keinen Informationsminister mehr finden, wir haben keine Minister mehr.“ Max hatte seinen Wagen dabei, Friedel ihren Citroën und Friedels Mann war inzwischen auch bei ihnen mit einem Lieferwagen. Alle sind dann glücklicherweise in einem Dorf in den Pyrenäen gelandet, wo sie in einem kleinen Hotel unterkamen und erstmals wieder in Betten schlafen konnten. Das war 1941. Eines Morgens waren zwei Wagen mit dem Gepäck, das darin geblieben war, gestohlen, nur der Lieferwagen war noch da. Da oben ging es nicht mehr weiter, Max war völlig verzweifelt und wollte sich umbringen. Von einem Arzt, mit dem sie früher befreundet waren, hatte Friedel für den Ernstfall Zyankali erhalten.

Flucht nach Südfrankreich

Auch jetzt hat Friedel wieder einen kühlen Kopf bewahrt und die Initiative ergriffen: Sie ist zu Freunden, ebenfalls emigrierte ehemalige saarländische Juden, in die Provence gefahren. Diese besorgten eine Unterkunft in Aix-en-Provence, ein kleines Hotel, wohin sie auch die Eltern aus La Bourboule geholt hat. Die hilfreiche, befreundete Familie war Josef Rotenberg und seine Frau; er war ehemaliger Besitzer eines Kaufhauses in Neunkirchen, sein Bruder Richard Rotenberg hatte Lotte Weil, die Tochter von Paul Weil, einem der Söhne vom Saarbrücker Kaufhaus E. Weil Söhne, geheiratet. Josef Rotenberg hatte sich sehr früh einen schönen Besitz in der Nähe von Aix-en-Provence und eine Wohnung in Paris besorgt. Das kleine Hotel in Aix hieß „Family Hotel“ und  Marcel Ophüls berichtet darüber in seinen Memoiren: „Dort habe ich gelernt, zwischen Wanzen und Läusen zu unterscheiden“. Friedel und ihr Mann wohnten hingegen im ersten Haus am Platz, im „Hôtel du Roy René“.

Friedels Mann wollte zurück nach Paris, Friedel blieb dickköpfig beim Rest der Familie in Aix zurück, sie wollte nicht dorthin, wo Deutsche waren. Die Deutschen wollten, dass ihr Mann für sie arbeitet, was dieser nicht wollte. Bis sie dann später insistiert haben, hat er noch eine Weile für Frankreich weitergearbeitet und etwas Geld verdient.

Die Familie in Aix hatte bald kaum noch Mittel und das Wasser stand ihnen bis zum Hals, da beschloss Friedel in die Höhle des Löwen zu gehen. Das deutsche Luftfahrtministerium hatte in der Provence in der freien Zone ein Büro in einem der besten Hotels. Dorthin ist Friedel gegangen. Sie hatte sich zuvor von einem befreundeten Anwalt in Paris eine Bescheinigung ausstellen lassen, nach welcher sie für einen Scheidungstermin persönlich in Paris erscheinen müsse. Friedel ging zu einem Offizier, sagte „Guten Morgen“ und nicht „Heil Hitler“ und erklärte ihm, sie brauche einen Passierschein, um nach Paris zu kommen. Dieser fragte wozu und da zog Friedel eine große Show ab, sie müsse in einer Scheidungsangelegenheit persönlich erscheinen, sie müsse ihre Gründe selbst darlegen und könne sich nicht von einem Anwalt vertreten lassen usw. Daraufhin sagte der Mann: „Einverstanden, ich gebe Ihnen die Hinfahrt, aber Sie müssen sich in Paris auf der deutschen Behörde melden und sich dort täglich vorstellen und dort müssen Sie die Rückfahrt beantragen, sonst kommen Sie nicht wieder raus“. Friedel sagte, sie müsse unbedingt dort wieder raus, sie habe ihre kleinen Kinder hier usw. und wollte eine Garantie für die Rückkehr. Der Mann nannte ihr seinen Namen und verabschiedete sich mit „Guten Morgen“.

Friedel ist dann mit dem Zug gefahren. Man musste die Demarkationslinie überqueren und dort gab es scharfe Grenzkontrollen durch die Deutschen. Sie hatte einen Schlafwagen mit einer anderen Dame zusammen, die in Lyon zugestiegen war. Als sich der Zug in Bewegung setzte, fragte die Dame auf Französisch, ob sie sich hier auskennt, was Friedel vorsichtigerweise verneinte. Die Dame meinte, sie führe das erste Mal über die Demarkationslinie, Friedel sagte, für sie sei es auch das erste Mal. Die Dame sagte, sie habe noch ein anderes Problem, ob sie ihr vertrauen könne. „Ja, was ist denn los?“ Die Dame eröffnete ihr dann, sie sei Jüdin. Friedel: „Das ist ja schön, ich bin auch Jüdin.“ Die andere: „Wie heißen Sie denn, ich heiße Rosenthal.“ „Ich heiße Haymann…“ „Na dann erwartet uns ja einiges …“ Der Zug hielt an der Grenze, sie hatten ausgemacht so zu tun, als schliefen sie fest. Die Deutschen betraten den Zug: „Papiere!“ – Papiere gezeigt. Wegen Friedels Bescheinigung des deutschen Offiziers wurde der Vorgesetzte hinzugerufen, der die Angelegenheit aber als in Ordnung betrachtete. Die andere Dame hatte einen türkischen Pass. Es hieß dann: „Die Türken sind neutral, lassen Sie sie…“ So kamen beide gut in Paris an.

Aber die Rückreise war viel komplizierter. Ein Schlepper, ein bezahlter Fluchthelfer, wurde ausfindig gemacht, um mit ihm über die grüne Grenze zu gelangen. Aber als Friedel mit der jungen Braut eines Freundes in Nevers ankam, war der Fluchthelfer schon aufgefallen und verhaftet… Nach einer Reihe zufälliger, abenteuerlicher und gefährlicher Umstände und der mutigen Hilfe eines französischen  Bahnangestellten kamen sie  letztendlich knapp, aber heil über die Grenze zurück.

Friedel hat dann noch drei- bis viermal das Risiko, mit falschen Papieren von Aix zu ihrem Mann nach Paris zu fahren, um Geld zu besorgen, auf sich genommen. Jedes Mal ein aufreibendes Abenteuer für sich, jedes Mal unverhoffte Hilfe von Fremden im letzten Moment und Glück…  sehr viel Glück.

Ihre echten Pässe hatten sie als Juden abgeben müssen. Aber Friedel und ihr Mann sowie Max und seine Frau wollten nach Übersee auswandern und zum Auswandern benötigte man Pässe… Auch dafür gab es viele glückliche Umstände und viele unverhoffte Pannen und Rückschläge… Friedels Mann wollte zunächst wieder einmal nicht weg, aber nachdem die Deutschen ihn zwingen wollten, mit der Fabrik für sie zu arbeiten, wurde ihm der Boden in Paris zu heiß und er ist nachts über die grüne Grenze zu der Familie ins freie Frankreich nach Aix gekommen.

Aber nun war er zweihundertprozentiger Franzose und fühlte sich hier im unbesetzten Teil Frankreichs sicher. Er mochte eigentlich nicht weggehen. Friedel musste erneut viel Überzeugungsarbeit leisten und die Dinge selbst in die Hand nehmen. Sie wollte unbedingt ihre Kinder retten und auch selbst weg. Wieder abenteuerliche Umstände, etliche Hindernisse…

Zum Auswandern benötigte man außer Pässen und einem Einreisevisum in das Gastland auch ein „visa de sortie“, ein Ausreisepapier aus Frankreich, das hatte die Vichy-Regierung eingeführt, und ein solches Ausreisevisum musste zuerst den deutschen Behörden vorgelegt werden, was für jüdische Emigranten lebensgefährlich war.

Friedel hatte von einem menschenfreundlichen französischen Beamten in Lapalisse, einem kleinen Ort bei Vichy, gegen ein Pfund Pralinen für seine Kinder - Geld wollte er nicht annehmen -  gut gefälschte Ausreisepapiere für ihre Familie und die Familie ihres Bruders Max erhalten.

Max’ Frau Hilde, damals 46 Jahre alt, hatte bei den Nonnen in Aix-en-Provence ihr zweites Kind tot geboren.

Friedel reiste mit den Kindern im Juni 1941 mit der mutigen Hilfe eines zuvor in Südfrankreich zufällig in einem Zug nach Marseille kennengelernten italienischen Offiziers im diplomatischen Dienst im Auto nach Barcelona; ihr Mann mit ein paar Tausend Dollar in den präparierten Sohlen seiner Schuhe folgte allein mit dem Zug nach. Offiziell durfte man als Franzose nur 100 Dollar mit sich ausführen. Friedel hatte sich die zwei- bis dreitausend Dollar, die sie bei sich in der Handtasche trug, von als Polizisten verkleideten Gaunern im Hotel abluchsen lassen… Nur das Geld, um das Hotel zu bezahlen und um das Schiffsbillet zu kaufen, hatte man ihr gelassen. Geld, das angeblich nach den USA geschickt worden war, um die erste Zeit in Übersee zu überbrücken, war auch nicht angekommen, wie sich später herausstellen sollte… Insgesamt an die 20.000 Dollar waren verlorengegangen.

Friedel, ihr Mann und die Kinder schifften sich am 21.6.1941 auf dem spanischen Dampfer „Cabo des Hornos“ ein und kamen letztendlich im Juli 1941 in Argentinien an.

Auf der Flucht vor Hitlers Schergen nach Südamerika

In Marseille hatten die Haymanns sich vor der Einschiffung in Spanien für viel Geld schließlich Einreisevisen für Chile besorgen können. Sie wollten aber lieber nach der Überfahrt in Buenos Aires/Argentinien bleiben, wo schon Freunde von ihnen lebten. Die damaligen Einwanderungsbestimmungen nach Argentinien besagten, dass, wer den Fuß auf argentinischem Boden setzt, das Recht hat, dort zu bleiben... Bloß waren diese Bestimmungen während ihrer 28-tägigen Überfahrt auf Grund der starken Einwanderung von Flüchtlingen aus Europa geändert worden...Transitpassagieren (sie besaßen ja nur Visen für Chile) wurde keine Aufenthaltsgenehmigung mehr für Argentinien gewährt. Sie sollten bei Ankunft direkt von Bord des Schiffes in einen Zug nach Chile verfrachtet werden.

Diese schlechte Nachricht sowie die Sorgen um ihre in Frankreich zurückgelassenen Eltern und das ungewisse Schicksal ihres Bruders Max und seiner Familie führten dazu, dass Friedel bei Ankunft in Buenos Aires mit hohem Fieber und einer schweren Gallenkrise zu Bett lag, weswegen sie noch eine Woche lang an Bord des Schiffes blieb, bis dieses nach Europa zurückfahren sollte.

Jetzt musste die Familie endgültig die Weiterreise nach Chile antreten. Nach einer 18-stündigen Zugfahrt kamen sie in Mendoza an, der letzten argentinischen Stadt vor dem Überschreiten der Cordillieren. Hier erwartete sie die Nachricht, dass der Eisenbahnverkehr nach Chile vorübergehend wegen eines Erdrutsches, der zwei Brücken in den Bergen zerstört hatte, unterbrochen war. So ergab sich ein mehrwöchiger erzwungener Aufenthalt in Mendoza. Bei einem Besuch des dortigen Chilenischen Konsulats erwiesen sich ihre in Marseille erworbenen Einreisevisen für Chile als wertlose Fälschungen, womit die Möglichkeit auf eine legale Einreise nach Chile  nicht mehr bestand. Die Haymanns beschlossen heimlich nach Buenos Aires zurückzufahren. Dort teilte ihnen die Einwanderungsbehörde mit, dass sie das Land binnen einer Woche zu verlassen hätten, weil sie sich illegal dort aufhielten.

Dies bedeutete wieder eine verzweifelte Lage, denn zum damaligen Zeitpunkt musste eine sehr hohe Kaution gestellt werden, um in ein südamerikanisches Land einwandern zu können, und die Mittel der Haymanns reichten dazu nicht aus.

Durch den Einsatz von persönlichen Beziehungen eines Anwalts  in Buenos Aires wurde ihnen kurz vor Ablauf ihrer Ausweisungsfrist ihre Aufenthaltsgenehmigung für Argentinien erteilt.

Neuanfang in Argentinien

Friedel beschloss nun, wo sie sich endlich in Sicherheit fühlte, ein neues Leben zu beginnen. In der Ehe hatte es schon seit einiger Zeit gekriselt, aber wegen der gemeinsamen Flucht hatte sie eine Lösung aufgeschoben. Nun wollte sie sich als erstes von Otto Haymann scheiden lassen. Ihr Mann hingegen wollte die Ehe nicht aufgeben.

Im Januar 1942 erfolgte die Trennung von ihrem Mann. Friedel musste nun unabhängig sein und selbst Geld verdienen. Sie fand zunächst Arbeit in einem großen Konfektionsgeschäft, „Hollywood“, das einem Italiener gehörte. Da sie noch kein Spanisch sprach, aber chic europäisch gekleidet war, setzte man sie halbtags als Empfangsdame aus Paris ein. Sie musste trotz der 38°- 40°C immer stehen. Dem polnisch-jüdischen Dekorateur des Geschäfts, der schnell verstanden hat, wer Friedel war, und der perfekt Spanisch sprach,  gab sie Tipps, damit er seine Schaufenster nach europäischem Geschmack flotter und moderner gestaltete. Dieser revanchierte sich damit, Friedels fachmännische Hilfe für seine Arbeit anzufordern, damit sie sich dabei zeitweise bei ihm eine Viertelstunde hinsetzen und ausruhen konnte.

Dem Geschäftsinhaber gefielen die neuen Schaufensterdekorationen sehr gut. Er besaß drei solcher Geschäfte und bot Friedel nun die Geschäftsführung der drei Geschäfte für ein vergleichsweise fürstliches Gehalt an. Es war ein sehr verlockendes Angebot, aber ihr Mann bestand darauf, das Sorgerecht für die Kinder zu beantragen und die Kinder zu sich zu nehmen, wenn sie das Angebot annähme, denn wenn ein Kind krank werden würde, müsste sie trotzdem ihren Posten ausfüllen und hätte keine Zeit mehr für die Kinder. Das wollte nun Friedel nicht. Auch der Anwalt vertrat die Meinung ihres Mannes. Sie sollte nun ihrem Chef eine andere Emigrantin als Nachfolgerin vorstellen, aber daraus wurde nichts, die empfohlene Kandidatin, ebenfalls chic und elegant, gefiel dem Chef nicht.

Über ihren Anwalt lernte Friedel 1942 eine Engländerin (Fotografin) kennen, die sich von ihrem Antiquitätenladen schnell trennen musste. Sie trafen und beschnupperten sich. Friedel beschloss kurzerhand zusammen mit der Engländerin, die ihr gut gefiel, eine französische Kleiderboutique in das Ladenlokal zu zaubern, in welcher sie Stoffblusen und Sportbekleidung verkaufen wollten, die eine angestellte Näherin von ihrer beiden Kleider kopieren und mit ihren Ideen verändern sollte, die es damals in Argentinien noch nicht gab. Ein Name für das Geschäft war bald gefunden, er sollte Französisch klingen: „Maison Vendôme“. Stoffe wurden auf Kredit im russisch-polnischen Textilviertel gekauft. Auf altmodische Schaufensterpuppen wurde verzichtet, Kleider warf man lässig über einen antiken Stuhl, ins Schaufenster wurden ein paar Handschuhe und Schals drapiert. Am Eröffnungstag gab es schöne Kartons, Briefpapier und Visitenkarten… alles auf Kredit besorgt…Einladungen zu einem Cocktail waren vorausgegangen… der Vermouth und das Salzgebäck auch auf Kredit organisiert… das war damals in Argentinien möglich und zu Emigranten war man besonders nett… Die Kunden kamen und fühlten sich verpflichtet, etwas zu kaufen und am nächsten Morgen war Geld in der Kasse. Alles wurde auf Maß genäht, Konfektion kannte man damals in Argentinien nicht und Maßnehmen und Abstecken mussten die beiden Boutiquen-Inhaberinnen abends von ihrer österreichischen Schneiderin erst lernen… denn davon hatten sie zunächst keine Ahnung. Die erste Zeit war ziemlich anstrengend. Es wurde auf einen besonderen exklusiven Stil geachtet. Der Service wurde persönlich abgestimmt, man bot den Kundinnen Kaffee oder Tee an und unterhielt sich mit ihnen. Sie merkten bald, dass hier etwas Besonderes war und das Geschäftchen hatte bald ein gutes Renommee. Nun kamen die Damen der englischen Kolonie von Buenos Aires hier einkaufen, die bisher nur bei der örtlichen Harods-Filiale eingekauft hatten, wo sie Englisch sprechen konnten, denn sie lernten kein Spanisch und die Argentinier lernten kein Englisch. Mit teils guten und teils schlechteren Zeiten existierte das Geschäft der beiden 21 Jahre lang, bis Friedel es im Sommer 1961 gesundheitsbedingt nicht mehr weiterführen konnte und aufgab.

Nach Kriegsende fuhr Friedel regelmäßig nach Europa, um den Vater zu sehen und zu unterstützen und im Pariser Schlussverkauf die Kleider-Modelle einzukaufen, die sie in Argentinien in der nächsten Saison in Kopien anbieten würde (durch die unterschiedlichen Jahreszeiten in den beiden Hemisphären hatte sie immer eine Saison Vorsprung).

1943 war Friedels Ehe nach französischem Recht geschieden worden (im argentinischen Recht existierte damals noch keine Möglichkeit, sich scheiden zu lassen).

Im gleichen Jahr hatte Friedel ihren zweiten Lebensgefährten, einen 20 Jahre älteren (*30. Mai 1889 in München geb.) unverheirateten jüdisch-deutschen Kunsthändler, Alfons Ludwig Heilbronner, in Buenos Aires zum ersten Mal kennengelernt. Er wohnte bei seiner unverheirateten Schwester und Friedel wohnte weiterhin zusammen mit ihren Kindern bis die zweite Tochter aus dem Haus gezogen war.  Die beiden Töchter, Irene und Ruth/Renée, blieben in Buenos Aires.

1953 kam Friedel erstmals wieder nach Saarbrücken, um Wiedergutmachungsansprüche anzumelden.

Übersiedlung nach Paris

Ab 1955 reiste das Paar zusammen nach Europa, wo Herr Heilbronner Kunstwerke einkaufte. Erst in den 60er Jahren, nachdem Friedel 1961 ihre Modeboutique aufgegeben hatte, sind die beiden zusammengezogen. Danach sind sie nach Paris übergesiedelt. Sie waren immer noch nicht verheiratet, aber Friedel lief überall unter dem Namen Heilbronner, obwohl ihre Papiere noch auf Haymann lauteten. Ihre Scheidung nach französischem Recht war in Argentinien nicht anerkannt, weil es dort damals keine Scheidung gab. Und für die Franzosen war sie Frau Oppenheimer. Als „Alfi“, Alfons Heilbronner 1969 sehr krank wurde und ihm mit 80 Jahren noch eine Niere entfernt wurde, haben sie beschlossen, doch zu heiraten, damit Friedel juristisch abgesichert mit dem richtigen Namen wichtige Papiere und Überweisungen unterschreiben konnte (bisher hatte sie mit „Heilbronner“ unterschrieben, ohne offiziell so zu heißen). Sie heirateten am 10. Februar 1972 auf der Mairie des 8. Arrondissements. Friedel war damals 60 Jahre alt. Ihr Mann verstarb zwei Jahre später, 83-jährig.

Friedels erster Mann, Otto Haymann, verließ relativ früh Argentinien und kehrte wieder zurück nach Paris, wo er die Regenmantelfabrik wieder bekam und unter anderem das Geschäft von Lise-Lotte Lyon und ihrem Bruder Henri, „Wettermantelkönig“, in Saarbrücken als Niederlassung belieferte.

Etwas später, Friedel war durch den Tod ihres zweiten Ehemanns sehr gebrochen, dachte sie, das Einzige, was sie jetzt retten könnte, wäre eine Beschäftigung, die sie vom Alleinsein ablenken könnte. Sie konnte aber in ihrem Alter nicht mehr den ganzen Tag zur Verfügung stehen, darüber hatte sie mit einem befreundeten Arzt, Dr. Adler, gesprochen. Dieser rief sie einige Tage später an, er habe Kontakt  zu einem jüngeren Kunsthändlerpaar, das eine Galerie eröffnen wollte. Das Centre Georges Pompidou war im Januar 1977 eröffnet worden und es ließen sich neue Kunstgalerien im Umfeld nieder. Der Galerist wollte gerne seine französischen Künstler in Deutschland ausstellen.

Und so nahm Friedel, die anfangs keine Ahnung von moderner oder zeitgenössischer Kunst hatte, nachdem sie sich mit Büchern von dem Galeristen in die Materie eingelesen hatte, Kontakt zu Dr. Georg W. Költzsch, dem damaligen Leiter der Modernen Galerie in Saarbrücken, auf und es kam in der Folge zu einigen, gemeinsam organisierten Ausstelllungen in der Saarbrücker Modernen Galerie.

Letzte Jahre in München

Wieder einige Jahre später, nach dem vierten Raubüberfall in einem Jahr (zwei in der Metro, zwei auf offener Straße, wo man ihr die Kette vom Hals riss), hat Friedel 1984 Paris endgültig verlassen, um sich in München niederzulassen, einer Stadt, in der sie sich sicher fühlte und die ihr gefiel. Attraktiv auch, um Konzerte und Theater zu besuchen, was Friedel so gerne mochte. Hier, an der Nördlichen Auffahrtsallee 45, verlebte sie noch 15 Jahre und hatte Kontakt zu der Witwe eines Freundes ihres Mannes, mit der sie sich angefreundet hatte und die sie schon zuvor oft besucht hatte.

Ab 1991 kam sie regelmäßig als Ehrengast zum Max Ophüls Festival nach Saarbrücken, außer im Jahr 1994 und in den Folgejahren, wo sie aus Protest fern blieb, weil der Film „Beruf Neonazi“ als Eröffnungsfilm gezeigt wurde, was sie sehr unpassend fand.

1998, nach Aufklärung des Missverständnisses, kam sie versöhnt wieder zum Festival. Es sollte das letzte Mal sein. Friedel Heilbronner verstarb am 3. April 1999 im Alter von 89 Jahren in München.

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