Hellmund, Heinrich

Autor: Ralph Schock

„Freitod oder Ermordung eines emigrierten deutschen Gelehrten? - Ein schauerlicher Leichenfund im Walde bei Dijon“, so lautete in der deutschsprachigen „Pariser Tageszeitung“ am 15. Dezember 1937 die Überschrift eines Artikels, der von einem grässlichen Ereignis berichtete: „Im Walde der Côte-d’Or hat in der Nähe von Salmaise ein Jäger ein fast ganz von Fleisch entblößtes menschliches Skelett gefunden, dessen wie zur Kreuzigung ausgebreitete Arme mit Stahlketten an zwei Baumstämme gebunden waren; […] überdies war ein Vorlegeschloß angehängt. Der vom Rumpf losgelöste Kopf lag in einiger Entfernung auf einem Stück Stoff.“

Der angedeutete Mordverdacht stellte sich nach polizeilichen Recherchen als falsch heraus: Heinrich Hellmund hatte vier Jahre nach seiner Emigration vermutlich nach dem 9. Juni 1937 seinem Leben ein Ende gesetzt.

1927 war im Wiener Amalthea-Verlag sein philosophisches opus magnum erschienen: „Das Wesen der Welt“. Das mit 1338 Seiten sehr umfangreiche Werk wurde nicht nur von Fachkollegen stark beachtet.

Geboren wurde Heinrich Hellmund  am 14. Februar 1897 unter dem Namen Ernst Rosenthal in St. Johann/Saarbrücken. Seine Eltern waren der 1855 in der Nähe von Straßburg geborene Max Rosenthal und die 1870 in Tilsit geborene Clara Wolff, sie hatten 1895 in Berlin geheiratet. In den Saarbrücker Adressbüchern ist das väterliche Geschäft („Rosenthal’sches Weiß- und Waarengeschäft“) in der Bahnhofstraße 88 zum ersten Mal 1884 erwähnt. Max Rosenthal ist als Besitzer dieses Hauses vermerkt, die Familie wohnte in der nahe gelegenen Viktoriastraße 17. Im März 1901 verkauften die Eltern das Geschäft und zogen mit ihrem einzigen Sohn nach München.

In seinem Lebenslauf, verfasst aus Anlass seiner mit summa cum laude bewerteten Promotion an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, beschrieb Hellmund am 12. Februar 1930 seine intellektuelle Entwicklung: „1914 begann ich zum ersten Mal mein Werk niederzuschreiben und habe es im ganzen viermal geschrieben. [...] Am meisten wurde ich durch Kant, Schopenhauer und Nietzsche beeinflusst. Das Denken ist meine einzige Leidenschaft; es erfüllt mich unausgesetzt.“

Von 1932 an gab Hellmund in Hamburg die Zeitschrift „Die Philosophische Warte“ heraus. Als im März 1933 die achte und letzte Ausgabe erschien, war ihr Herausgeber bereits aus Deutschland geflohen. Der in Frankfurt lehrende protestantische Religionsphilosoph Paul Tillich bemühte sich in den Jahren 1930/31, Hellmund eine Assistentenstelle zu verschaffen. Dessen Hoffnungen auf berufliche Unterstützung waren nicht unbegründet, denn Tillich hatte sein Hauptwerk außerordentlich positiv beurteilt. Als Hellmund Ende Oktober 1930 wegen eines Treffens nach Frankfurt fuhr, hörte er, daß Tillich nach Saarbrücken gereist sei, wo ihn Hellmund zu treffen hoffte.

Über seine Eindrücke von Saarbrücken schrieb er am 28. Oktober 1930 an seine Eltern: „Um 4 Uhr fuhr ich los und war abends ½9 in Saarbrücken, nach 30 Jahren zum ersten Mal. Die Anlagen an der Saar mit den Kastanienbäumen erkannte ich gleich wieder, ebenso die Brücke und die schmalen Seitenstraßen mit ihren kleinen Häusern und dem holprigen Steinpflaster. […] Im übrigen aber ist Saarbrücken eine Großstadt geworden mit eleganten Geschäften und Warenhäusern, ganz modern. Auf Nr. 88, an der Ecke ist ein schönes Pelzgeschäft, wenige Minuten vom Bahnhof.“

Die Machtergreifung der Nazis beendete auch Hellmunds Karriere. Er floh zunächst in die Schweiz. Am 28. Oktober 1933 wandte sich der Schweizer Diplomat und Historiker Carl-Jacob Burckhardt an Thomas Mann: „Unter den unzähligen Flüchtlingen, die mich hier fast täglich aufsuchen, fiel mir ein merkwürdiger Mann auf, der durch den Grad seiner Verzweiflung, die Bescheidenheit und Diskretion seines Auftretens und die ungeheure bittere Anspannung seines Selbstbewußtseins und Stolzes, mich mehr als andere bewegte und mir einen starken Eindruck hinterließ. […] Sie haben ihm einmal mit der Äußerung über sein Werk sehr wohl getan und in seiner Verlassenheit zehrt er von dieser Freude. […] Das worum ich Sie bitten wollte ist folgendes: wäre es Ihnen möglich mir ein kurzes Wort zu seinen Gunsten zu schreiben, das ich einer zweiten Intervention bei der Rockefeller Stiftung beilegen würde.“ [Zit. nach: Joachim Lilla: „Carl Jacob Burckhardt und Thomas Mann“, in: Thomas-Mann-Jahrbuch Bd. 17 (2004), Frankfurt/M. 2004, S. 172]

Am 4. November 1933 antwortete Mann: „Das Schicksal Dr. Hellmunds hat mich sehr betroffen gemacht. Auch er also? Warum? Er ist also Jude? Ich habe das nicht gewusst. […] Daß für Hellmund jedenfalls etwas geschehen muß, ist ein Gefühl, das ich vollkommen mit Ihnen teile. Er ist ein außerordentlicher Kopf, eine erstaunliche geistige Potenz, die zeitweise auch mich ganz und gar in ihren Bann gezogen hat.“ [Thomas Mann: „Briefe 1889 – 1936“, hg. von Erika Mann, S. Fischer, Frankfurt/M. 1961, S. 337]

Mann setzte sich mehrfach für den Philosophen ein, so mit einem Brief an den in Genf lehrenden Hochschullehrer Gottfried Bohnenblust (Tagebuch-Eintragung vom 6.8.1934), der Hellmund an der dortigen Universität eine befristete Dozentenstelle verschaffte.

Im Sommer 1936 begab sich Hellmund in die Abgeschiedenheit der Schweizer Berge, wohl um sich der behördlich verfügten ‚Ausschaffung‘ zu entziehen, weil er mit seiner Tätigkeit in Genf das Arbeitsverbot für Emigranten übertreten hatte. Ausgewiesen aus der Schweiz, reiste er nach Paris, weil er an der Sorbonne ein Stipendium erhalten hatte.

Den schwierigen Charakter Hellmunds bestätigt eine in der „Pariser Tageszeitung“ am 17. Dezember 1937 abgedruckte Zuschrift eines ungenannt bleibenden Bekannten: Er „konnte sich mit der Tatsache seiner Emigration ebenso wenig abfinden wie er es verstand, seine philosophischen Gedankengänge anderen verständlich zu machen. Außerdem glaubte er sich ständig von der Gestapo verfolgt.“ So sei er allmählich in einen Zustand „seelischer Verzweiflung“ geraten, „der durch die schweren materiellen Sorgen, die ihn bedrückten, noch verschlimmert wurde“.

Die Zeitung zitiert aus einem Brief Hellmunds: „Ich sehe niemanden. Ich spreche niemanden. Es fehlt mir an menschlicher Fürsorge und Wärme. Mein Leben ist traurig und bedrückt. Ich habe keine Freunde. Ich möchte mich anderen nähern, aber ich stoße auf Kälte, wenn nicht gar auf Feindschaft […], ich bin völlig verzweifelt.“ Es ist nicht bekannt, an wen dieser Brief Hellmunds adressiert war.

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