Steinthal, Dr. Hugo und Dr. Karfunkelstein, Wally

Autor: Marcel Wainstock

Hugo Steinthal wurde am 27. Juli 1893 als Sohn des Kaufmanns Joseph Steinthal und dessen  Ehefrau Fanny, geb. Stolzenberg, in St. Johann geboren. Seine jüdischen Eltern, der Vater (1859-1911) stammte aus Mogendorf im Unterwesterwald, die Mutter (1868-1943) aus Münster, hatten am 19. November 1888, kurz nach dem 20. Geburtstag der Braut, in Münster geheiratet. Das Paar hatte sich in der Saarbrücker Bahnhofstraße Nr. 74 ein Möbelgeschäft aufgebaut und es im Laufe der Jahre zu einem gewissen Wohlstand gebracht.  Zwei ihrer Kinder verstarben bereits im Kindesalter: Die 1892 geborene Tochter Emmy im Jahre 1897 und der im Januar 1900 geborene Sohn Leo im April 1901.

Nach dem Abitur am humanistischen Ludwigsgymnasium Ostern 1914 schrieb sich Hugo Steinthal für die Fächer Geschichte, Germanistik und Philosophie an der Universität Freiburg/Breisgau ein. Bald musste er sein gerade erst begonnenes Studium unterbrechen, denn nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges stand Hugo Steinthal von 1914 bis 1916 als Soldat an der Front.

Im November 1916 wurde er als Kriegsbeschädigter entlassen und nahm sein Studium in Freiburg wieder auf. Im folgenden Jahr wechselte er an die Münchener Universität. 1920 ging er nach Breslau, wo er 1921 mit einer Dissertation über „Die Juden im fränkischen Reiche. Ihre rechtliche und wirtschaftlich-soziale Stellung“ zum Dr. phil. promovierte. In Breslau hatte Hugo Steinthal die junge jüdische Ärztin Dr. med. Wally Rosa Karfunkelstein (geb. am 7. Februar 1895 in Breslau) kennen gelernt, die eine der ersten Frauen war, die an der Breslauer Universität als Medizinerin promovierte. Wally Karfunkelstein entstammte einer wohlhabenden Breslauer jüdischen Familie, die völlig assimiliert und dem Judentum stark entfremdet war. Hugo und Wally heirateten in Breslau am 14. September 1924. Das junge Paar kam anschließend nach Saarbrücken und richtete im ersten Stockwerk des Elternhauses von Hugo ihren eigenen Haushalt ein. Hugos  verwitwete Mutter bewohnte das zweite Stockwerk. Sein Vater war bereits 1911 verstorben und Hugo half seiner Mutter, der Seniorchefin der Firma, beim Führen des elterlichen Geschäfts. Wissenschaftliche Studien und Publikationen führte er nach seiner Promotion nur noch nebenberuflich als Hobby weiter. Seine Frau Wally hingegen praktizierte im Haus Bahnhofstraße 74 als damals erste Gynäkologin der Stadt und des gesamten Saargebiets.

Am 1. Mai 1926 wurde die Tochter Eva Klara in Saarbrücken geboren, Sohn Peter Josef erblickte hier am 8. Dezember 1927 das Licht der Welt. Neben seiner Tätigkeit als Kaufmann war Dr. Hugo Steinthal auch politisch tätig.

Er wurde Vorsitzender des Bezirksverbands Saar des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ und übte in dieser Funktion eine rege Vortragstätigkeit in den jüdischen Gemeinden des gesamten Saargebiets aus. Sein Neffe berichtet, dass Hugo Steinthal 1928, als er einmal die Zentrale des „Centralvereins“ verließ, von einer Schlägergruppe, die auf Juden wartete, die aus dem Haus kommen würden, angegriffen und dermaßen zugerichtet worden ist, dass daraufhin ein mehrmonatiger Krankenhausaufenthalt folgte.

Ab 1. März 1930 befand sich die Geschäftsstelle des saarländischen Bezirksverbands des  „Centralvereins“ im Steinthalschen Anwesen. Ziel dieses Vereins, der seit 1893 bestand und in allen Städten des Deutschen Reichs mit einer nennenswerten jüdischen Gemeinschaft Ortsgruppen hatte (1929 war er die Dachorganisation für insgesamt 31 Landesverbände mit ca. 500 Ortsgruppen und weit mehr als 60.000 Mitgliedern), war die Abwehr des damals im Kaiserreich sehr virulenten Antisemitismus insbesondere durch eine starke Rechtsschutzarbeit und die Vervollständigung der Integration der jüdischen Bürgerinnen und Bürger in die reichsdeutsche Gesellschaft. Nach seiner Satzung war der Verein für jüdische Menschen aller politischer und religiöser Ausrichtungen offen, de facto rekrutierten sich seine Mitglieder aber größtenteils aus dem assimilierten liberalen, deutsch-patriotischen Bürgertum, das sich kulturell und liberal-religiös trotzdem als jüdisch definierte. Dr. Hugo Steinthal und seine Familie waren typische Vertreter der Ansichten und Lebensweise dieser weitgehend areligiösen Juden.

Auch wenn Dr. Hugo Steinthal seine wissenschaftlichen Studien neben seiner kaufmännischen Tätigkeit nicht hauptberuflich betreiben konnte, so widmete er dennoch seinen Interessen viel Zeit und veröffentlichte z. B. im „Nachrichtenblatt der Synagogen-Gemeinde des Kreises Saarbrücken“ ab Frühjahr 1934 in mehreren Folgen „Beiträge zu einer Geschichte und Soziologie der Juden im Saargebiet“. Außerdem betätigte er sich als Redakteur für die Zeitschriften "Die Volksstimme", "Die Freiheit" und "Westland“.

Im Hause Steinthal verkehrten in der Völkerbundzeit mehrere prominente Persönlichkeiten wie beispielsweise Sir Knox, der Präsident der Regierungskommission, sowie weitere Mitglieder der international zusammengesetzten Völkerbunds-Regierung, namhafte Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger, Joseph Roth und zahlreiche andere Intellektuelle unterschiedlichster politischer Ausrichtung wie z. B. der Marxist Fritz Sternberg.

Steinthal, der politisch der Sozialdemokratie nahestand, nahm den bedrohlichen Zulauf, den die NSDAP nach 1929 auch im Saargebiet zu verzeichnen hatte, zum Anlass, bei seiner Vortragstätigkeit für den „Centralverein“ besonders auf die Gefahren, die seinen Glaubensbrüdern durch den Nationalsozialismus bevorstanden, hinzuweisen. Nach 1933 sah er für die Juden des Saargebiets nur die Aufrechterhaltung und Verlängerung der Völkerbundverwaltung als einzig annehmbares Ziel für die bevorstehende Volksabstimmung von 1935. Dafür setzte er sich mit anderen politisch engagierten jüdischen Zeitgenossen wie Rechtsanwalt Dr. Walter Sender und Eduard Lehmann sowie Rabbiner Friedrich Rülf ein. Er selbst und die Vorgenannten sowie außerdem noch Irvin Eppstein bildeten das von Rabbiner Rülf gegründete „Komitee“, das im Geheimen arbeitete und sich im Vorfeld der Volksabstimmung intensiv, ja fieberhaft um eine Garantieerklärung für die Regimegegner nach dem erwarteten Anschluss des Saargebiets an Hitler-Deutschland bemühten. Die einzelnen Mitglieder des „Komitees“ unternahmen vielfach Reisen in europäische Metropolen, um einflussreiche Politiker über die verzweifelte Lage insbesondere der Saarjuden zu informieren und ihren internationalen Beistand zu erbitten. Die Treffen des „Komitees“ fanden ganz diskret in einem Raum im Hinterhaus des Steinthalschen Hauses statt. Die Bemühungen des „Komitees“ wurden schließlich von Erfolg gekrönt und mündeten am 4. Dezember 1934 in dem sogenannten Römischen Abkommen.

In den letzten Wochen vor der Abstimmung verhalf Hugo Steinthal wie einige weitere begüterte jüdische Saarbrücker Kaufmannsfamilien noch zahlreichen Emigranten zur Flucht nach Frankreich, indem er seine Wohnung und seinen Wagen zur Verfügung stellte. Er selbst überschritt unmittelbar nach Bekanntwerden des Abstimmungsergebnisses ebenfalls die Grenze nach Frankreich, da er als im Abstimmungskampf besonders exponierter Gegner des Anschlusses – trotz des Römischen Abkommens – Repressalien befürchtete. Seine Mutter verkaufte kurz darauf das Anwesen Bahnhofstraße 74 an die Firma Kirchner und ging ebenfalls nach Frankreich, in die Nähe Straßburgs.

Fanny Steinthal kam, als die Bevölkerung Straßburgs bei Kriegsausbruch evakuiert wurde, in die Dordogne. Sie verstarb am 13. August 1943 in Périgueux.  Ihre Tochter Johanna Neuschüler (geb. am 12. Oktober 1890), Hugos Schwester, wurde von Büschfeld/Saar-Hunsrück aus deportiert und im KZ-Ausch­witz ermordet.

In Frankreich legte sich Steinthal den Decknamen Henri Saulnier zu.

Hugo und Wally wurde wie mehreren tausend Anderen in gleicher Situation laut Mitteilung des deutschen Reichsanzeigers 1940 die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Ebenso wurden beiden die Doktortitel aberkannt.

Hugo Steinthal wurde 1940 als französischer Armierungssoldat eingezogen. Im gleichen Jahr, am 19. Mai 1940, kurz vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris, beging seine Ehefrau Wally Selbstmord.

Hugo Steinthal überlebte die Okkupation in Frankreich. Er kehrte 1953 aus Paris nach Saarbrücken zurück und arbeitete noch einige Jahre als Bibliothekar in der Landtagsbibliothek.

Hugos Bruder Paul war rechtzeitig in die USA emigriert und verstarb in Chicago, Cook County, Illinois.

Hugos und Wallys Sohn Peter/Pierre verstarb am 29. Januar 2000 in Ballainvilliers, Essonne/ Ile de France, und hinterließ einen Sohn Philippe Steinthal. Die Tochter Eva Klara legte sich in der französischen Emigration das Pseudonym Eve Dessarre zu und arbeitete nach dem Krieg als Journalistin, Übersetzerin und Kinderbuchautorin. Sie wurde von ihrem Ehemann Albert Jules Legros geschieden und verstarb am 27. Juli 1990.

Hugo Steinthal verstarb in Saarbrücken am 7. März 1961.

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